
Linn Ullmann: „Mädchen 1983“, der neue Roman

Eine erwachsene Frau versucht, das junge Mädchen zu versehen, das sie einst war. Linn Ullmann beschert ihren Leserinnen einen wunderbaren, eindrucksvollen, tief unter die Haut bohrenden poetischen Roman. Mädchen 1983 ist eine Spurensuche, eine Forschungsreise in die Vergangenheit, ein Versuch sich selbst zu erkennen und zu verzeihen. Ein faszinierender, in kein Genre einzuordnender Bericht, ein autobiografisch gefärbter Roman, in dem sich nicht nur die Mädchen von 1983 oder die Frauen von 2021 wiederfinden werden.
Gerade 16 ist Karin als sie A im Aufzug auf dem Weg nah oben im Carnegie Hall-Gebäude begegnet. Damals hat sie mit ihrer Mutter, viel beschäftigten Schauspielerin in New York gelebt. Gute 40 Jahre später lebt sie mit ihrem Mann, der Tochter und dem alten Hund in Oslo. Vielleicht ist die Pandemie, mit Ausgangssperre und diffusen Ängsten, die Ursache, dass die über 50-jährige Karin, während sie an einem Buch schreibt, immer wieder in die Vergangenheit zurückschleudert. So genau kann sie sich gar nicht erinnern, was damals passiert ist, als A (mehr erfahren wir nicht über den 30 Jahre älteren Modefotografen) sie mit dem Versprechen, ein Model aus ihr zu machen, einlädt, zu ihm nach Paris zu kommen.
Dass sie Mutter das unter keinen Umständen erlauben will, hindert Karin nicht, sich ins Flugzeug zu setzen. Was dann passiert, kann getrost als eine 08/15 Geschichte bezeichnet werden. Die #metoo-Bewegung hat viele dieser Geschichten aufgezeigt, und erst die erwachsenen Frauen wagen es, mit diesen nolens volens erlebten Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Naivität und Neugier, das Gefühl etwas Besonderes zu sein, die Sehnsucht nach Beachtung, Zuneigung und die Faszination, die ein erwachsener Man, ausübt, wenn er sich der unreifen Frau zuwendet, all diese auf das Mädchen einstürmenden Gefühle sind es, die sie zur leichten Beute machen.
Die Warnungen der Mütter helfen wenig, die eigene Situation ist ja eine spezielle, der ältere Mann ist eine Ausnahmeerscheinung, so dumm wie die Mutter wird sie nicht sein, denkt sie. Großmütter, Mütter, Enkelin, viele haben so eine Geschichte. Es muss nicht Paris sein, wohin sie die Reise führt und auch nicht der Model-Beruf, der sie verlockt. Es genügt eine muffige Wohnung, in der ihr Er seine Grafiksammlung zeigen will oder das Künstlerzimmer, in dem der Cellist nur ihr eine Bach-Sonate vorspielen wird. Die Variationen der Geschichte sind unendlich.
Nicht aber die Erzählung von Karin, die sich 1921 an das Mädchen von 1983 erinnert. So genau weiß sie gar nicht mehr, was damals passiert ist in Paris. Im Lauf der Zeit sind ihre Erinnerungen diffus geworden und ändern ständig ihre Gestalt. Immer wieder fragt sich die Autorin, ob sie ihren Erinnerungen trauen kann. „Indem ich schreibe, was passiert ist, indem ich die Geschichte so wahrheitsgetreu wie möglich erzähle, versuche ich, sie in einem Körper zu vereinen – die Frau von 2021 und das Mädchen von 1983. Ich weiß nicht, ob das möglich ist.“ Was der Leserin allerdings nicht möglich ist, ist die Trennung von Karin und Linn. Die Autorin, Linn, verschmilzt mit der Erzählerin, Karin. Das ist auch beabsichtigt, Linn Ullmann ist auf den Namen Karin Beate Ullmann getauft worden und wird doch immer Linn gerufen worden. Auch die Karin von 2021 verschweigt die Biografie von Linn nicht. Die Mutter, mit der sie damals in von Paris nicht, wie versprochen, täglich telefoniert hat, taucht in der Gegenwart des Romans häufig auf, der Vater ist ein Schatten. Die Männer, an die sich Karin zu erinnern versucht, haben nur einen Anfangsbuchstaben.
Wie das so ist mit den plötzlich einschießenden Erinnerungen, sie sind nicht geordnet, nicht chronologisch und vielleicht gar nicht echt. Linn Ullmann kehrt aus den Erinnerungen an die Pariser Tage immer wieder zurück in die Gegenwart, erzählt von den Spaziergängen mit dem Hund und auch ihrer Tochter. Für sie ist der Roman nicht geschrieben, er ist dem Ehemann, Niels, gewidmet. „… und es gibt so viel, was ich ihr sagen möchte, so viel, was ich erklären möchte, […], aber, das ist es nicht, was sie von mir braucht.“ Linn und Karin, also die 55-jährige Autorin und die 16-jährige Erzählerin kommen einander immer näher. „Ich bin nicht mehr wütend auf das sechzehnjährige Mädchen“, schreibt sie, „sie ist mir nicht mehr peinlich.“ Die Therapie des sich zurückzuversetzen in jenes Mädchen, das in einer Winternacht allein durch Paris irrt, weil sie den Namen ihres Hotels vergessen hat, nur noch einen Zettel mit A's Adresse in ihrer Manteltasche findet und deshalb im Morgengrauen bei ihm anläutet, ist gelungen. Der Kaffee schmeckt wieder und auch ein Käsebrot mit Salzgurke. Die Erwachsene hat sich mit der Sechszehnjährigen versöhnt.
Jetzt kann sie vergessen, weiterleben, ohne Scham und Maske. Wäre diese für Karin so schmerzhafte Grabungsarbeit nicht so wundersam zärtlich und ohne Groll von Linn geschrieben, müsste man brüllen und heulen vor Abscheu, Wut und Mitgefühl. Stattdessen darf man mitunter sogar zaghaft lächeln und sich an Linn Ullmanns vorsichtigem Umgang mit Karin und ihrer Familie gepaart mit ihren Gedanken über das Schreiben und das Verarbeiten traumatisierender Erlebnisse sogar erfreuen.
Schon während des Lesens habe ich immer wieder an meine Lieblingsautorin, Ali Smith, denken müssen, auch wenn beide Autorinnen, die eine Engländern, die andere Skandinavierin, einander stilistisch gar nicht ähneln. Doch fühle ich mich in den Werken beider willkommen und zu Hause. Jetzt, da die Hardcoverausgabe in den Buchhandlungen liegt, wundere ich mich gar nicht, wenn der Verlag Ali Smith zitiert: „Ein Meisterwerk. Es verbindet Biografie und Erzählung auf machtvolle Weise und hebt sie auf eine neue Dimension.“ Auch Ali Smith hat mit ihren Büchern neue Perspektiven eröffnet und neue Dimensionen erreicht.
Mädchen 1983 ist Ullmanns siebenter Roman. Als ihr erster Roman, Før du sovner 1998 erschien, war sie schon als einflussreiche Literaturkritikerin bekannt. Auf Deutsch ist das Debüt 2013 erschienen: Die Lügnerin, übersetzt von Gabriele Haefs. 2015 ist De urolige / Die Unruhigen, 2018, übersetzt von Paul Berf, erschienen.
Linn Ullmann: Mädchen 1983 / Jente 1983, aus dem Norwegischen von Paul Berf, 288 Seiten, Luchterhand, 2025. € 24,70. E-Book: € 18,99.
Ältere Werke einschließlich Die Unruhigen sind bei btb als Taschenbuch erschienen.