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Herron: „London Rules“, Esprit und Suspense

Mick Herron beim Marlborough LitFest 2021_© Ben_Phillip

Die lahmen Pferde galoppieren wieder durch London. Nach ihren eigenen Regeln. Autor Mick Herron beobachtet zum 5. Mal Jackson Lamb und seine „Slow Horses“, die sich an keine Regel halten, auch nicht an die ungeschriebenen Londoner Regeln, deren erste heißt: „Rette deinen Arsch“. Einmal sind es die grauen Männer mit Krawatten und Köfferchen, die das Unheil heraufbeschwören, ein anderes Mal ein toter Spion und russische Oligarchen, und im 5. Band sind es Terroristen, die im Dorf Abbotsfield ein Massaker anrichten.

Die Morgendämmerung besucht das Slough House.  © imgages.ctfassets.netDas Vorwort gibt das Thema vor, macht neugierig und lässt den ersten kalten Schauer über den Rücken rieseln. Danach aber wird es in jeder Folge romantisch. Der Autor lädt einen Gast ein, quasi einen Ouvertüre-Spion: Eine Katze, eine neugierige Busfahrerin, einen liebenswürdigen Geist oder die Morgendämmerung, die sich heimlich und leise (die Busfahrerin linst im Vorbeifahren durch die schmutzigen Fenster) die Stiegen im Slough House hinauf schleichen, um den Leserinnen die abbruchreife Hütte samt deren Bewohner:innen, ausgemusterte Spioninnen und Spione, vorzustellen und zu charakterisieren. Am Abend, wenn mehr oder weniger alle − dank der Befolgung der wichtigsten Londoner Regel haben diesmal wirklich alle überlebt – todmüde, doch keineswegs siegessicher, in ihre Behausungen schleichen, tun es ihnen die unsichtbaren Besucher gleich, huschen oder wehen die Stufen hinunter, drücken sich durch die Hintertüre davon. Keiner von den lahmen Gäulen benützt je die kleine Vordertür in der Aldersgate Street, alle gehen durch den Hof und kommen durch die Hintertür. Nur die zu einem Besuch geschickten hohen Tiere aus dem Hauptquartier des Inland-Geheimdienstes kommen von vorn. Da kann sich Jackson Lamb, das Leitpferd, jedes Mal vorbereiten und seine Rülpser und Fürze bereithalten und auf laut stellen. Slough House versteckt sich in der Aldersgate Street. © wikipedia
So genau weiß man noch nicht, warum Jackson Lamb der Chef dieses abgehalfterten Teams geworden ist, war er doch im Kalten Krieg eine wichtige Figur des MI5. Jedenfalls ist er jetzt, im neuen Jahrtausend, einer der grausigsten, abscheulichsten, unappetitlichsten Männer, über die je auch nur eine Zeile geschrieben worden ist. Ihn zu verabscheuen, gelingt dennoch nicht, er beschützt seine „Joes“, selbst wenn er seinen Arsch aus dem klebrigen Sessel hieven muss, um unverhofft am richtigen Ort aufzutauchen. Doch in „London Rules“ steht nicht Lamb im Mittelpunkt und auch nicht der Enkel eines einst mächtiges Geheimdienstmitglied, River Cartwright. Der wollte in die Fußstapfen des berühmten Großvaters steigen, doch die Intrige eines Konkurrenten hat ihn aus dem Palast in den Stall katapultiert. Dass er nicht mehr dabei sein darf, nicht gebraucht wird, macht ihn krank. River ist eine sympathische Figur, deshalb darf gehofft werden, dass er von keiner Kugel getroffen und von keinem Messer gestochen wird. Shirley Dander, die eine zentrale Rolle spielt, tröstet sich mit Gummibären. © Thomas Rosenau / wikipedia Die Hauptagentin in diesem 5. Band ist Shirley Dander, die eben das verordnete Aggressionstraining beendet hat und mitten in einem kalten Entzug steckt. Den Kokainvorrat trägt sie mit sich herum, doch tapfer hält sie sich an Gummibärlis, wenn sie sich trösten oder belohnen will. Jedenfalls macht sie, natürlich ohne Erlaubnis, einen guten Job. Ihre Antennen werden aktiviert, als sie gerade das Slough House verlassen hat, um sich einen Burger zu kaufen, und den Nerd Roddy Ho brutal auf den Gehsteig wirft. Sie nämlich sieht, dass ein Auto direkt auf den Computerfreak von Slough House zurast. Er bedankt sich nicht für die Lebensrettung, weil er seinen Kopf bei der süßen Chinesin Kim hat, die zuerst seine Konten plündert und ihm dann geheime Dokumente entlockt. Er ist in eine Honigfalle getappt. Bald sitzt er im Keller am Regent’s Park, um verhört zu werden. Lamb hat Sorge, dass er gefoltert wird und kümmert sich um den naiven, zu sozialen Kontakten unfähigen Mitarbeiter. Shirley ist einstweilen hinter der Terroristengruppe her. Der Hauptsitz des (echten) MI5 in London. © wikipedia
Natürlich ist der MI5 so gut erfunden wie das Slough House, doch kann Herron mit wenigen Sätzen die Charaktere, deren es viele gibt wegen der beiden Schauplätze, oben am Regent’s Park und unten an der Aldersgate Street, mit wenigen Sätzen lebendig machen. Dennoch bindet er die Handlung in das aktuelle Geschehen ein. Terroristische Anschläge, russische Mafia oder kapitale Fehler in der Regierung und im Geheimdienst sind ebenso realistisch, wie im aktuellen Band, dass die Menschen in London eine Maske zu tragen haben und am Brexit leiden . Nicht zu vernachlässigen sind die realen Schauplätze in der fiktiven Geschichte.
Herron begeistert nicIllustration von 1650. Nach dem  ehemalige Aldersgate Tor ist die Straße, in der sich auch Slough House befindet, benannt. © wikipediaht nur wegen des spannungsgeladenen Plots, den er mit überaus komischen Glanzlichtern schmückt, sondern auch wegen seines hervorragenden Stils. Kein Satz, der nur geschrieben worden ist, damit die geforderte Seitenanzahl zustande kommt, geschliffene Dialoge, kluge Gedankenspiele und eben diese geniale Verbindung von ernsthafter Spannung und humorvollen Episoden machen das Lesen zu einem hochwertigen Vergnügen. Die tadellose Übersetzung von Stefanie Schäfer erhöht den Genuss.
Am Ende haben die Slow Horses wie immer bewiesen, dass sie weder lahm noch unbrauchbar sind, man kennt sie eher als begeisterungsfähig und einsatzfreudig unter Missachtung jeglicher Londoner Regel. Sind sie einmal in Galopp versetzt, lassen sie auch ihren Arsch ungeschützt. Jetzt trotten sie nach Hause, die Abenddämmerung entfernt sich durch die Hintertür, um ihrer dunklen Schwester, der Nacht, Platz zu machen. Und die Süchtigen hoffen – diesmal sind nicht die abgehalfterten Agenten gemeint, sondern die ihnen verfallenen Leserinnen – , dass Jackson Lamb noch oft mit der besten Intrigantin und Abteilungsleiterin im MI5, Diana Taverner (Lady Di), an der Themse sitzen wird, um ihr zu erklären, wo es langgeht. Wenn die Truppe endlich heimgehen kann, inspiziert die Abenddämmerung die Büroraume. © pxhere.com

Fußnoten:
„Slough“ bedeutet Sumpf, Morast:  
Die London Rules dienen dazu, im bürokratischen Sumpf des Inlandsgeheimdienstes (MI5) zu überleben.
Um seine Truppe zu motivieren, bedient sich Jackson Lamb der Methode „Karotte und Stock“. Wie? Karotte oder Stock? „Nein“, erklärt er, „Ich benutze den Stock, um ihnen die Karotte in den Arsch zu stecken. Das führt in der Regel zu Ergebnissen."
Der nächste Band wird „Joe Country“ heißen. Die Titel sind so sprechend und zugleich witzig, dass es gut ist, sie nicht einzudeutschen.

Mick Herron: „London Rules“, aus dem Englischen von Stefanie Schäfer, Diogenes 2022. 496 Seiten. € 18.50. E-Book € 14,99.