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Graeber / Wengrow: Neue Geschichte der Menschheit

Autorenteam David Graeber, David Wengrow. © Kalpesch Lathigra

Aufruhr unter den Naturwissenschaftlern, Archäolog:innen und Anthropolog:innen müssen sich mit „Einer neuen Geschichte der Menschheit“ auseinandersetzen. David Graeber, ein Publizist und Kulturanthropologe, und der Archäologe David Wengrow wittern Morgendämmerung und haben unter dem Titel „The Dawn of Everything. A New History of Humantiy“ ein dickes Buch verfasst, in dem sie beweisen, dass die Geschichte der Menschheit umgeschrieben werden muss. Die akribische Recherche samt aufregender Beweisführung ist von einem Dreierteam eilig übersetzt worden und Ende Jänner im renommierten Verlag Klett-Cotta mit dem Titel „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ erschienen.

Keine Angst vor der Wissenschaft. Graeber, der kurz nach der Fertigstellung des Monsterwerkes während eines Venedig-Urlaubs nur wenige Monate vor seinem 60. Geburtstag verstorben ist, und Wengrow erzählen nicht nur die neue Geschichte, sondern auch jede Menge Geschichten. Sie verstehen nicht nur zu recherchieren und zu forschen, sondern auch zu unterhalten. Mehr als zehn Jahre haben die beiden Wissenschaftler an dem Opus magnum gearbeitet, das sämtliches Wissen über die Entwicklung der Menschen über den Hauf wirft. Ikonografie des Fortschritts. Die populäre Darstellung der (menschlichen) Evolution ist überholt. Sie vermittelt die falsche Vorstellung der Evolution als einen gerichteten Verbesserungsprozess. © wikipedia / free license
Ihr Ziel war es, herauszufinden, warum heute auf der Welt eine so eklatante soziale Ungleichheit herrscht, warum die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden.
Die Autoren nehmen an, und nennen dafür auch Beweise, die sie in indigenen Gesellschaften gefunden haben, dass die sozialen Gruppen (Wildbeuterhorden) ursprünglich egalitär waren. Es gab weder Herrscher noch Untergebe, und wenn Befehle zu erteilen waren, etwa in der Jagdzeit, dann wurde ein Leithammel gewählt, der nur für diese eine Aufgabe Chef war. Außerdem beweisen Graeber, der renommierte Kulturanthropologe war wohl die treibende Kraft, und Wengrow, Eine Hochzeitsfeier in einer Wildbeutrer-Geselschaft, fotografiert 1914 von  Edward S. Curtis. Die nordamerikanischen Nordwestküstenkulturen bildeten sehr komplexe Wildbeuter-Gesellschaften: Sie waren sesshaft, lebten in großen Dörfern, betrieben Vorratswirtschaft und hatten differenzierte Eigentumsvorstellungen. © gemeinfreidass die lineare Entwicklung der Menschheit vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter nicht stimmt. Sie fanden genügend Beweise dafür, dass beide Lebensformen nebeneinander existierten. Dass es ein Aha-Erlebnis gegeben hat, als ein Mann oder eine Frau ein Korn gefunden hat, das sie in die Erde versenkten, um endlich ernten zu können, verweisen Graeber / Wengrow in den Bereich der Märchen und Legenden.
Mir scheint, die beiden haben auch alle Bücher, Pamphlete und sonstige Texte zum Thema gelesen, die je geschrieben worden sind. Und sie zitieren diese auch ausführlich. Leser:innen bekommen einen Schnellkurs in Gesellschaftstheorie, von Thomas Hobbes (1588–1679) über John Locke (1632–1704) bis zu Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Und auch viele, viele jüngere in Fachkreisen berühmte Männer und ein paar Frauen werden genannt, zitiert und ihre Erkenntnisse zerpflückt. Allein der Anhang (Bibliographie, Anmerkungen, Namensregister) füllt 100 Seiten. Lucy, deren Skelettteile 1974 in Äthiopien gefunden worden sind, wird als Vormensch, Australopithecus afarensis bezeichnet. Im Neanderthal Museum nahe Düsseldorf ist das vermutlich weibliche Individuum als Rekonstruktion ausgestellt. Lucy hat vor mehr als drei Millionen Jahren gelebt. © Neanderthal Museum, Mettmann  Im Mittelpunkt der Recherche stand die Frage, was denn der Ursprung der sozialen Ungleichheit sei. Die Autoren geben auch eine Antwort: Nicht der Ackerbau und das Bepflanzen des Bodens hat die sozial differenzierte Gesellschaft verursacht, sondern die Tatsache, dass die Menschen begonnen haben, mehr Güter und Ressourcen anzuhäufen, als sie benötigten. Aus diesem Überfluss hätten diese menschlichen Hamster auch ihre Macht über andere abgeleitet. In einer egalitären Gesellschaft hätte es keinen Zusammenhang zwischen Befehlsgewalt und Überfluss gegeben, meinen die Autoren Wer mehr besaß, als er brauchen konnte, teilte oder auch nicht, jedenfalls hat er / sie deshalb keine Befehlsgewalt oder Macht über andere gehabt.Angehörige der Hadza im afrikanischen Tansania, eines der letzten Völker, die als traditionelle Jäger und Sammler leben (2007).  © Idobi / wikipedia
Doch es geht in den Ausführungen von Graeber und Wengrow auch immer wieder darum, dass viel zu lange Mythen und Legenden über die Entwicklung der Menschheit und der Zivilisation weitererzählt würden. Ein Mythos, der von einem plötzlich aufgetauchten (erschaffenen) ersten Menschenpaar, das in einem paradiesischen Zustand gelebt hat, bis beide in den Apfel gebissen haben, ist schon lange als hübsches (europäisches) Märchen erkannt. Überdies, sagen die Autoren,  Ethnologie und Archäologie hätten viel zu lange daran gelitten, dass nur wenige Länder genügend Geld hatten, um Forschungen durchzuführen. Es wurde bis ins 20. Jahrhundert nicht die Welt erforscht, sondern nur kleine Teile davon, und, so behaupten die Autoren, was den Forscher:innen nicht in den Kram gepasst hat, wurde gar nicht erst aufgeschrieben und schnell wieder vergessen. So ist ein einseitiges Bild entstanden, das nun mit der "neuen Geschichte der Menschheit" korrigiert werden soll. Laiinnen und Laien staunen, Wissenschaftler:innen sind sich jedoch keineswegs einig darüber, ob diese "neue Geschichte" eine gute ist. San-Gemeinschaft aus dem südlichen Afrika. Wie alle unspezialisierten Wildbeuter leben die San in kleinen Gruppen von rund 30 bis 40 Menschen.  © Aiono Tuominen /  licenseCCO
 Wichtig ist David & David auch die Erkenntnis, dass die Zivilisation sich nicht allmählich entwickelt hat und die Menschen in ihren Anfängen ohne Organisation und Plan umhergestolpert sind. Auch als sie noch als Wildbeuter in kleinen Gruppen gelebt haben, haben sich die „Familien“ organisiert, über die Ordnung ihres Lebens nachgedacht, Jagdzeiten, Feste und Ruhezeiten geplant. Graeber und Wengrow belegen mit ihren Forschungsergebnissen, dass auch die „ersten“ Menschen keineswegs gedankenlos waren oder gar das Denken erst lernen mussten. "Eine neue Geschichte der Menschheit": Cover. © Klett-Cotta
Im Gegensatz zu vielen anderen wissenschaftlichen Werken ist diese Zertrümmerung der Mythen um die Geschichte der Menschheit amüsant zu lesen und durch die vielen Wiederholungen auch gut zu verstehen. Am besten ist es, den dickleibigen Band mit dem Stift in der Hand zu durchforschen, wichtige Sätze zu unterstreichen, damit der Zusammenhang nicht verloren geht, wenn man, so man nicht selbst Wissenschaftler:in ist, die Ausführungen nicht in einer Marathonlektüre inhaliert, sondern sich  immer wieder ein Kapitel vornimmt und das Erfahrene in Ruhe und im Gespräch mit anderen verdaut.

David Graeber / David Wengrow: „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“, Originaltitel: „The Dawn of Everything. A New History of Humantiy“, aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Henning Dedekind und Andreas Thomsen, Klett-Cotta, 2022. 672 Seiten. € 28,80. E-Book: € 21,99.