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Im Schwall der Dinge des Lebens

Gush is great. © Cesar Vayssie

Das Leben in 30 choreografierten Minuten. Wer glaubt, dass das kaum möglich ist, hat Gush is great versäumt. Der grandiose Kurzabend war nun zu Gast beim ImPulsTanz-Festival im Rahmen der Nachwuchs-Reihe [8:tension]

Jedes Objekt befeuert eine Erinnerung.Fünf Performer:innen stehen am hinteren Rand der Bühne des Wiener Odeon. Das Licht geht an und aus. Wieder an, blau leuchten dann die drei abschließenden Fenster des großen Saals der ehemaligen Getreidebörse. Und aus. Diese choreografierte Licht-Intro dauert einige Minuten, in denen man die Performer:innen immer wieder sekundenlang in einer Linie stehend im Stillstand betrachten kann. Dann beginnen sie im Gleichschritt nach vorne zu gehen. Ihr Weg wird 30 Minuten dauern. Doch in dieser Zeit eröffnen sie ganze Welten über Kindheit, Jugend, Freizeit und Partyleben. Einen veritablen Schwall – „gush“. Erinnerungen, die durch die Objekte evoziert werden, die sie aus ihren Jacken, Mänteln, Hosen, Röcken und sonstigen Kleidungsstücken ziehen. Der Reigen ist schier endlos. Überraschend. Berührend. Humorvoll. Und zum Weinen schön. Da erscheinen Luftballon und Regenschirm, Schwimmbrille und ein Mehlsack, der herumgereicht wird und zarte weiße Bahnen zieht. Keksdose und Wasserpistole (funktionstüchtig), ein batteriebetriebener Hund, der den Rest des Abends über die Bühne springt, ehe er an eines der Objekte stößt, umfällt und sein mechanisches Bellen fast schmerzhaft weiter erklingt. Ein Blumenstrauß, ein Bild, Spielkarten, Eintrittskarten, Postkarten und Briefe. Eine Barbie-Puppe, ein Konfetti-Kanone, Knallerbsen, Ketten, Seifenblasen, Feuerzeug, Zünder, Zigarette, Zitrone. Das Team im Anmarsch Richtung Publikum.
Jedes dieser Dinge, die mit magischer Intensität aus den Kleidungsstücken gezogen werden, eröffnen im Moment seiner unerwarteten Anwesenheit Erinnerungen an persönliche Erfahrungen. Kindheit, Jugend, frühes Erwachsensein. Der erste Kinobesuch, die erste Party, die erste Liebe … die Bilder sind so zahlreich wie die Gegenstände, die an diesem Abend erscheinen. Dabei erzählen sie vor allem von Abschieden. Das tun sie dank der unendlichen Trauer, die den fünf Darsteller:innen in deren Einheitsschritten kollektiv eingeschrieben ist. Zweimal „tanzen“ einmal zwei, dann einer von ihnen aus der Reihe, um sich nur wieder an einer anderen Seite des uniformen Marsches in den Abgrund einzureihen. Die wenigen, ungelenk wirkenden Schritte aus der Uniformität – man hält sich an den anderen fest, während man über deren Füße steigt oder sich an ihnen festzukrallen scheint – eröffnen wieder neue, schmerzvolle Erinnerungsmomente. Es braucht nicht mehr. Jeder Schritt, jeder Griff in die Taschen, unter die Jacken, in den Nacken birgt eine Gefahr. Und sei es nur die, all die Dinge, die ein Leben ausmachen, zu verlieren. Hinter sich zu lassen, weil Stillstand nicht möglich ist. Immer weiter. 
Auch ein Konfettiregen öfffnet den Deckel der Erinnerungsksite.. Production Xx heißt die temporäre Verbindung der fünf Choreograf:innen und Tänzer:innen, die sich 2023 im Rahmen einer Plattform für künstlerischen Austausch und kollektives Arbeiten kennengelernt haben. Julie Botet, Simon Le Borgne, Max Gomard, Philomène Jander, Zoé Lakhnati & Ulysse Zangs – jede:r der fünf Performer:innen bringt so auch unterschiedliche Herkünfte, Erlebnisse, und Erfahrungen in das Projekt ein. Daraus entsteht ein eindrücklicher „Atlas des Gedächtnisses“, wie ihn Zoé Lakhnati zuletzt auch in ihrem Projekt Where the fuck am I? im Wiener Tanzquartier thematisierte.
Kurz vor dem Erreichen der vorderen Randes der Bühne zieht eine:r der Darsteller:innen eine Fahne heraus, um sie, als einziges Objekt, sofort wieder in die Jackentasche zu schieben. ProdctionXx: Teambesprechung auf der Terrasse.
Es ist die Flagge Palästinas. Dass dieses Nicht-zu-Boden-Werfen als politischer Kommentar zu lesen ist, ist klar. (Hier kann noch nicht von Verlorenem erzählt werden, ist noch Gegenwart. Und auch der Titel verweist in diese Richtung: Von Gush Emunim über Gush Katif bis Gush Schalom reichen die Referenzen.) Die daran anschließende, die Performance abschließende Soundsequenz setzt noch einmal eine andere Perspektive entgegen, eröffnet das Leid für alle, fächert den Verlust für alle auf, die sich darin wiederfinden: Während die uniforme Gruppe, die sich in den singulären Erinnerungen ihrer Mitglieder auf so unwiederbringliche Weise vorgestellt hat, zum Stillstand kommt, hört man Kinder spielen, plaudernde, lachende Stimmen, Party-Musik, ehe Letztere fast unmerklich zu Schüssen, Bomben, Trommelwirbel mutiert und aus den Stimmen der Freude und Leichtigkeit stetig ansteigende Schreie werden. Angst und Panik machen sich breit in diesem letzten Moment, dann Stille, Dunkelheit, in die die Tänzer:innen ihre Körper schwer zu Boden fallen lassen. Lachende Kinder, die nicht mehr sind. Feiernde junge Menschen, die nicht mehr sind. Singende Menschen, die nicht mehr sind. Gush, der große Schwall zwischen Ekstase und Verderben, hat sich mit großer Wucht über alle ergossen.

Production Xx: Gush is great, 29. + 31.7.2025; ImPulsTanz / [8:tension]  im Odeon
Konzept, Choreografie, Performance und Bühnenbild: Julie Botet, Simon Le Borgne, Max Gomard, Philomène Jander, Zoé Lakhnati und Ulysse Zangs; künstlerische Zusammenarbeit: Eva Galmel; Sound: Ulysse Zangs; Licht: Dgiorgia Chaix; Kostüme: Thomas Santos
Fotos: © Nora Houguenade, Cesar Vayssie