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Alain Platel: „Requiem pour L.“ in St. Pölten

"Requiem pour L." mit Musiker*innen aus Afrika. © Chris Van der Burght

Feiert das Leben! Auch im Angesicht des Todes! Alain Platel brachte mit seiner Compagnie „Les Ballets C de la B“ zur Musik von Fabrizio Cassol nach Mozarts Requiem das Stück „Requiem pour L.“ nach St. Pölten. Afrikanische Musik und Lebensfreude vor einem Film, der eine Sterbende zeigt. Welch eine Herausforderung für den Umgang mit dem Tod!

Musiker*innen aus Afrika interpretieren Fabrizio Cassols Musik. Alle Bilder: ©  Chris Van der BurghtDas Bühnenbild gestaltete Platel nach dem Vorbild des Holocaust-Denkmals in Berlin mit vielen dunkelgrauen Quadern, verschieden hoch, zwischen und auf denen die 15 MusikerInnen aus dem Kongo, aus Südafrika und Europa, allesamt auf herausragendem Niveau agierend, ihr Konzert darbieten. Auf eine riesige Leinwand im Hintergrund der Bühne wird ein Schwarz-Weiß-Video projiziert. Es zeigt in unveränderlicher Großaufnahme das Gesicht einer weißen Frau, auf ihrem Sterbebett liegend. In Zeitlupe präsentiert, sehen wir sie anfangs noch schwach redend, sich an Auge und Mund berührend. Selten einmal huschen Verwandte durch das Bild, wird eine Frau an der Seite sichtbar, die ihr Gesicht streichelt. Sie folgt noch mit den Augen den Bewegungen der Angehörigen um sich herum, scheint noch ansprechbar zu sein. Diese Zeichen werden schwächer, seltener. Lange Zeiten passiert nichts. Alles dauert sehr lange. Zum Ende der 105-minütigen Performance öffnet sich langsam ihr Mund, das Kinn sackt ab. Nun hat sie ihre Reise vollendet. Die Sängerinnen singen in ihrer eigenen Sprache.

Fabrizio Cassol komponierte eine Musik für dieses Konzert, die sich an den Original-Manuskripten Mozarts für sein Requiem orientiert. Er separierte anhand der verschiedenen Handschriften das von Mozart selbst Komponierte von allen Ergänzungen und Versuchen einer Vollendung Fremder, um mit diesem Originalmaterial und unter Hinzuziehung kongolesischer und südafrikanischer Musik, wie sie dort traditionell bei Sterbe- und Totenfeiern gespielt wird, eine europäisch-afrikanische Melange aus erkennbar mozartschen Phrasen in ihrem düsteren Duktus und unverkennbar afrikanischer Musik mit ihrer immanenten Lebensfreude und ihrem Optimismus zu erzeugen. Cassol nutze dabei Erfahrungen, die er bereits bei der Arbeit an „Coup Fatal“ (gezeigt bei den Wiener Festwochen) mit kongolesischen Musikern machen konnte.

"Requiem pour L." mit Akkordeon und Euphonium. Die 15 MusikerInnen spielen E-Gitarre und E-Bass, Akkordeon, Euphonium (Baritonhorn), drei Likemben (ein im Kongo sehr verbreitetes „Daumenklavier“), Schlagzeug und singen klassisch und lyrisch-afrikanisch auf Latein und in verschiedenen afrikanischen Sprachen (je drei SängerInnen). Sie wenden sich zuweilen der Leinwand zu, jeder Einzelne auf der Bühne baut seine ganz eigene Beziehung zu Lucy, der Sterbenden, auf.

Das so entstehende Bühnengeschehen wirkt im Betrachter äußerst ambivalent. Einerseits bedrückt das Sterben. Andererseits macht Platel das Publikum zu Voyeuren, die, gebannt und vielleicht auch ein wenig beschämt von der eigenen Faszination, versuchen, „den Moment“ nicht zu verpassen. Und dann sind da die MusikerInnen, die zwischen wenig Trauer und viel Lebensfreude ein so breites Spektrum an intensiven Emotionen präsentieren, das niemanden unberührt lassen kann. Fabrizio Cassol und Alain Platel. © Chris Van der Burght /Theater-Hamburg.org

Die Arbeit betrachtet das Sterben und den Tod aus verschiedenen Blickwinkeln. Das Bühnen-Design erinnert daran, dass jeder kollektiv für den Tod Anderer verantwortlich sein kann. Im Spannungsfeld zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen entsteht hier ein geschützter, geradezu intimer Raum der Besinnung, mit Zeit für Gefühle und für Innenschau. "Requiem pour L.": Die Musiker*innen bieten ein breites Spektrum an Emotionen.Die Langsamkeit des Sterbens auf der Leinwand tut weh. Die MusikerInnen zeigen uns, wie sie Sterben und Tod traditionell dort behandeln, wo sie herkommen. Und es wird das Sterben so realistisch wie nur möglich vor Augen geführt. (Lucy, die Sterbende, war mit den Arbeiten Platels vertraut. Sie und ihre Angehörigen erklärten ihr Einverständnis zur Verwendung der Aufnahmen im Rahmen einer Performance.)
Das Publikum im Festspielhaus St. Pölten war begeistert. Platel und die MusikerInnen ziehen weiter, bis April ist die Produktion auf Reisen. Von Frankreich über Portugal bis Schweden.

Alain Platel & Fabrizio Cassol / Les Ballets C. de la B, Gent / Brüssel: „Requiem pour L.“, Regie, Bühnenbild: Alain Platel; Musik: Fabrizio Cassol; musikalische Leitung: Rodriguez Vangama; 23. Februar 2019, Festspielhaus St. Pölten.