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Schwankende Schatten, flüchtige Bilder

Adler oder Gespenst, Bild oder Abbild?

Sechs Tänzer:innen, drei Instrumentalisten und drei Kameras ergeben ein Pandämonium an kaum zu fassenden Figuren, einen ephemeren Bilderbogen, ein Spiegelkabinett auf unsicherem Boden. Living in funny eternity L.I.F.E nennen Liquid Loft & Bulbul die Choreografie von Chris Haring, uraufgeführt im Rahmen von ImPulsTanzFestival am 9. Juli auf der Bühne des Burgtheaters, die zugleich der Zuschauerraum ist.

Breanna O’Mara mit weichem Rückgrat als fremder Vogel.Woran können wir uns noch festhalten, wenn alles Schwindel ist, die Bilder verzerrt, gefälscht, wie Wasser den Augen entgleitend? Tarnen und Täuschen scheint das Motto dieser Aufführung zu sein, in der sich die Tänzerinnen, Anna Maria Nowak, Breanna O‘Mara, Hannah Timbrell, und Tänzer, Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, gemeinsam mit den Live-Videos bewegen und verwandeln. Figuren aus einer anderen Welt, Tiere, Gespenster, Himmel und Berge tauchen auf, die Außenhaut wird ständig gewechselt, ein wildes Tier, Reptilien, süße Katzen, elegante Vögel, eine Christus-Figur oder ist es die marmorne „verschleierte Jungfrau“? Nicht nur die Haut wird im unaufhörlich auf das Publikum brausenden Sturm der Bilder immer wieder von neuem übergezogen. Die dehnbaren Kostüme hat Teammitglied Stefan Röhrle entworfen und sich dabei selbst übertroffen. Die Farben schimmern, die Pailletten glitzern, die Tänzerinnen präsentieren sich als Diven, um gleich wieder zu verschwinden, sich auf der Silberfolie zu aalen und mit sich selbst in Dialog zu treten. Eisberge wachsen, die Kunstgeschichte grüßt von der Videowand, die Gestaltwandler und -wandlerinnen tummeln sich mit leeren Augen in der Ewigkeit, müssen lachen und auch seufzen, haben kein Geschlecht und auch keine Zukunft. Sie spielen Komödie und merken nicht, Die Kamera auf dem Stativ rechts mittig. Links hinten die Rockexperimentalisten Bulbul.dass sie mitten in der Tragödie stecken, sie geben sich bunten Träumen hin und wissen nicht, dass sie selbst Traumfiguren sind. Wer aber träumt diese amorphen Gestalten? Pragmatisch, sachlich, realistisch gesehen ist die Antwort klar: Chris Haring und sein Team sind verantwortlich, Träumer:innen sind sie alle keine. Doch sie wecken alle – bewegt auf der Bühne, aufmerksam hinter der Kamera, rhythmisch an den Soundinstrumenten, konzentriert beim Nachdenken –, Träume im Publikum.
Ob träumend oder hellwach, die Fragen sind die gleichen: Was ist real und was ist gefälscht? Was sehen wir wirklich, was bilden wir uns ein? Mit optischen Täuschungen haben Künstler schon vor ein paar hundert Jahren Gottesfürchtige, die in den Himmel schauen wollten, genarrt. Der Mensch sieht, was er sehen will und glaubt auch das Unwahrscheinliche, Unwirkliche. Die kleinen Videokameras gleiten den Tänzer:innen von allein in die Hand, Michael Loizenbauer lenkt die Hauptkamera mit ruhiger Hand. Er ist – und das soll nicht verschwiegen werden, so schön und auch so lang ist das schmückende Epitheton – Senior Scientist am Peter Weibel Forschungsinstitut für digitale Kultur im Bereich KI und lenkt die flüchtigen, flüssigen, spiegelnden, verzerrten Bilder der Company seit bald 20 Jahren. Senior Scientist! Ein Titel, schön wie die Bilder, die er einfängt und bei Bedarf auch festhält, doch niemals während einer Vorstellung, da fliehen die Körper, verändern sich die Figuren, die Tiere, Dämonen und Chimären, bevor sie das Publikum richtig erfasst hat.Verschoben, verzerrt, gespiegelt, auch die Bilder lügen schon seit langer Zeit. Oder ist es das wahre Gesicht der Welt?Liquid Loft selbst ist so flüssig nicht, wie der Name vorgibt. Chris Harings Team ist das einzige der freien Tanzszene, das eine 20-jährige Tradition in nahezu derselben Zusammensetzung hat. Und auch wenn Harings Gedankengänge und Bewegungsmuster und die Inspirationsquellen immer die gleichen sind, so ist doch jede Performance ganz anders, und neu, erweitert, möchte ich sagen. Diese aktuelle, dreimal im ImPulsTanzFestival gezeigt, darf ganz sicher als vorläufig eindringlichste, interessanteste, tiefsinnigste, kurz beste Performance von LIquid Loft / Chris Haring bezeichnet werden. Die Sechs auf der Bühne, alle seit vielen Jahren in die Company integriert, bewegen sich präzise, wie miteinander und auch den Kameras verwachsen. Die Choreografie ist stimmig und nicht manipulativ, gibt keinen Inhalt, keine Botschaften vor, will uns auch keine Intimitäten verraten, keine Meinung eintrichtern. Die Kamera fängt Gespenster ein. Es sind die Geister der schmelzenden Eisberge, die sich erheben. Man darf die sich auflösenden Bilder, die unter den Stoffbahnen getürmten Skulpturen, die Kunststücke, die alle sechs mit ihren ausdrucksstarken Tanzkörpern vollführen, das Licht, die Musik, die Gesamtinszenierung genießen und sich seinen eigenen Teil denken. Erstmals ist nicht nur Andreas Berger am Mischpult für Komposition und Klangraum verantwortlich, überraschend treten drei alte fröhlich gestimmte Herren mit Instrumenten vor den Tänzer:innen auf die Bühne: Manfred Engelmayr, Roland Rathmair und Dieter Kern sind Bulbul, „die wohl unkonventionellste, trippigste und schrägste Rockformation Österreichs“, steht im Programm-Faltblatt. Das Live-Trio, mit dem Geschehen auf Videowänden und Bühne eins oder auch dagegen spielend, hält mich auf dem Boden, holt mich mit Rhythmus und Drive aus dieser verwirrenden „lustigen Ewigkeit“, in der geschlechtslosen Spieler:innen auf dieser Bühne, die die ganze Welt ist, auftreten, heraus, gibt mir Sicherheit und Vertrauen. Nicht lange, jedenfalls keine Ewigkeit, schon lösen sich auch die Musiker auf, treten ab und überlassen dem wabernden elektronischen Sound den Auftritt.
Die Frage, ob wir in einen tiefen Brunnen gesperrt sind und träumen, dass wir leben, oder ob wir leben und träumen, ins finstere Gefängnis verbannt zu sein, ist noch immer nicht geklärt. Liquid Loft / Chris Haring hat sie lediglich von neuem gestellt.

Liquid Loft & Bulbul: Living in funny eternity_L.I.F.E. Uraufführung 9. Juli 2023, Burgtheater Bühne, ImPulsTanz 
Tanz, Choreografie: Luke Baio, Dong Uk Kim, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Breanna O’Mara, Hannah Timbrell.
Live-Band, Komposition: Bulbul / Manfred Engelmayr, Roland Rathmair, Dieter Kern. Die Wände stürzen, der Boden schwankt, auf nichts kann man sich verlassen, nur darauf, das wir alle verlassen sind.
Künstlerische Leitung, Choreografie: Chris Haring
Komposition und Soundkonzept: Andreas Berger;
Licht-Design, Szenografie: Thomas Jelinek; choreografische Assistenz: Stephanie Cumming, Katherina Meves;
Stage Management: Roman Harrer; Company Management/ Produktion: Cornelia Lehner. Kostüme: Stefan Röhrle;
Videodokumentation: Michael Loizenbauer
Eine Co-Produktion von ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival, CCAM / Scène Nationale de Vandoeuvre und Liquid Loft.
Fotos: © Michael Loizenbauer