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François Chaignaud & Nino Laisné: Orlando

François Chaignaud, er und sie, Engel und Teufel zugleich. © Nino Laisné

In drei Akten zeigen François Chaignaud und Nino Laisné das phänomenale Tanzkonzert „Romances inciertos, un autre Orlando“. Diese „ungewissen Romanzen“, samt dem „anderen Orlando“ beruhen einerseits auf dem literarischen Orlando, einer von Virginia Woolf geschaffenen androgynen Figur, die immer wieder verschwindet und hundert Jahre später wie neu geboren, mit anderem Geschlecht, wieder auftaucht und andererseits auf spanischen Liedern aus drei Jahrhunderten. Ein beziehungsvoller Abend im Volkstheater, in dessen Mittelpunkt der sich der wandelnde Körper Chaignauds bewegt, präsentiert beim ImPulsTanz Festival 2018.

Chaignaud ist Doncella, die als Mann in den Kreig zieht.  © Videoextract, Festival dAvignonFrançois Chaignaud, Gästen des ImPulsTanz Festivals vor allem durch die Auftritte mit Cecilia Bengolea seit langem bekannt und von diesen auch geliebt und verehrt, verblüfft immer wieder von neuem. Diesmal in einem getanzten Konzert (auch die vier Virtuosen an den Instrumenten – Bandoneon, Violas da Gamba, Theorbe und Barockgitarre, Schlagzeug – tanzen mit) das zugleich eine Oper ist (in der bis ins 19. Jahrhundert Tanzeinlagen obligatorisch waren), denn Chaignaud, der Wandlungsfähige, singt auch. Und wie – vom höchsten Sopran bis in den tiefsten Bass, nahezu in einem Atemzug.  Nur einer der Hinweise auf die sich stets wandelnde Figur von Orlando (ein Anagramm von Roland, dem Paladin Karls des Großen, von dem das französische Chanson de Geste „Rolandslied“ erzählt), die Chaignaud auf unnachahmliche Weise, mit hochenergetischem Körpereinsatz, mit Spitzentanz, Flamenco, Gesang spanischer Lieder auf die Bühne bringt. Diese Lieder (sephardische und spanische Folklore, historische Kompositionen, ausgesucht und arrangiert von Nino Laisné) erzählen von der Sehnsucht und vom Begehren, von der Verwirrung durch die Liebe und der zum gleichen Geschlecht, und vom Schwindel, der Täuschung und dem Verschwinden. In den Pausen spielt das Quartett für Alte Musik „Folías“, feurige, ausgelassene Tänze, wie sie auch auf den kanarischen Inseln beliebt waren und wegen, ihres dem Wahnsinn ähnlichen Charakters, immer wieder verboten waren.Doncella, die Kriegerische (Chaignaud) und Musiker, sich wandelnde Malerei im Hintergrund. © Nino Laisné

Drei legendäre Frauen, die sich als Männer ausgeben, oder umgekehrt, Männer, die sich in Frauen verwandeln, oder eben beides sind wirbeln furios im mittelalterlichen / barocken Klanguniversum. Doncella guerrera, die Jungfrau aus Sevilla, verkleidet sich als Mann, um in den Krieg zu ziehen; San Miguel, der hl. Michael, der kriegerische Erzengel mit den schönen Schenkeln aus García Lorcas Gedicht und schließlich die kokette Zigeunerin Tarara, von Lorca in einem Kinderlied gepriesen. Alle drei Figuren samt Woolfs Orlando haben eine lange Geschichte, die in Literatur, Musik und bildender Kunst verarbeitet worden ist. Chaignaud und Laisné sind nicht nur Künstler aller Genres, sondern auch akribische Forscher. Wie ernsthaft und präzise sie an die „Romanzen“ herangegangen sind, zeigt die Beilage zum Programm, in der sowohl die spanischen (wunderschönen) Texte der Arien übersetzt sind, sondern auch ein aufschlussreicher Essay über die Quellen zu lesen ist.

Flamenco als La Tararal, die Exzessive. © Nino LaisnéDer Universalkünstler Laisné, wie Chaignaud selbst die Inkarnation eines Orlando, hat neben dem Konzept auch die musikalische Leitung übernommen. Das Bühnenset mit vier Fenstern, in denen Naturbilder (auch diese in ständigem Wandel, mit Gärten und Springbrunnen, in Flüssen ertrinkendes Rotwild und schließlich eine Arche Noah, vor der Löwen und Kühe gemeinsam grasen) aufleuchten. Die Musiker sitzen im Halbkreis.

Chaignaud wirbelt in seinen prächtigen Kostümen bis in den Zuschauerraum, tanzt auf der Spitze, auch auf einem Bein, verblüfft mit rasanten Drehungen und Bocksprüngen auf High Heels, erzeugt mit seiner Raserei, auch rückwärts auf hohen Stelzen, Schwindel. Das stimungsvolle Ambiente der Aufführung in Avignon, 2018. © Christophe Raynaud de LageAuf Biegen und Brechen ist der Körper gespannt, entspannt, dem Tode nahe, liegt er auf den Schultern des Bandeonisten, der Schlagzeuger muss mitstützen; singend verlagert er das Körperzentrum ins Unendliche, hält die Balance und besiegt die Schwerkraft. Mann und Frau, Kriegerin und glühender Liebhaber, vergehen in Rausch und Euphorie.

Ich bin nicht der, den ihr lebend seht
Ich bin es nicht mehr nein, nein, nein.
Schatten bin ich, von dem, der starb.
Villancico aus dem Cancionero de Uppsala, 16. Jh.

Inhalt und Form verschmelzen zu einer funkelnden Einheit, zum Weinen schön, zum Staunen eindrucksvoll, beglückend unterhaltsam.

Die Weltpremiere des aufwändigen Stückes fand im September 2017 in Genf statt. Im Juli 2018 war das getanzte Konzert zu Gast beim Festival von Avignon. Stilgerecht wurde es im Hof des 600 Jahre alten, verlassenen Cölestiner-Klosters aufgeführt. Für alle, die dieses fulminante Spektakel versäumt haben: Am 8. und 9. September ist François Chaignaud und sein Team Gast beim Theaterfestival Basel.

François Chaignaud & Nino Laisné: „Romances inciertos, un autre Orlando“. Konzept & musikalische Leitung: Nino Laisné; Konzept & Choreografie (Stimme und Tanz): François Chaignaud; Musiker: Jean-Baptiste Henry, Bandoneon; Robin Pharo, Violas de gamba; Daniel Zapico, Theorbe & Barockgitarre; Onofre Serer, Schlagzeug.
Licht und Bühnentechnik: Anthony Merlaud; Tontechnik : Charles-Alexandre Englebert; Set & Malerei: Marie Maresca; Malerei: Fanny Gaudreau. Die Kostüme stammen von einem riesigen Team. 3. August 2018, Volkstheater / ImPulsTanz.