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Verstecken, Entdecken, Konstruieren – eine Utopie

„Sleeping Duty“: Körper und Objekte.

Oleg Soulimenko geht wieder auf Reisen, um Zeit und Raum zu erweitern, und nachzudenken, wie wir in Zukunft leben wollen und können. „Sleeping Duty“ nennt er das neueste Werk, in dem er im Tanzquartier mit zwei Tänzerinnen, einem Musiker und jeder Menge Material auftritt. Unter dem schönen ein Märchen zitierenden Titel kann man sich einiges vorstellen.
Duty kennt man von Reisen, wenn (k)ein Zoll zu bezahlen ist. Doch Duty heißt auch Pflicht und sogar Honorar, ich entschließe mich für letzteres. Es gibt Gründe dafür.

Werden die physischen Körper der Menschen in Zukunft ganz verschwinden? Der Tänzer und Choreograf Soulimenko befasst sich immer wieder mit Utopien, mit dem Leben „danach“, das uns immer näher rückt. Einmal reist er auf einen fremden Planeten und stöbert in der bekannten Kultur, ein anderes Mal wird er zum Schamanen und brät seine eigenen Erdäpfel, die Verbindungen der menschlichen Spezies miteinander, mit den Dingen, der Welt, dem Kosmos und wie man in unsicheren Zeiten Sicherheit findet, interessieren ihn. Dabei ist der Russe Soulimenko mit französischem Esprit und schillernder Ironie gesegnet, verlangt von seinem Publikum mitunter etwas Geduld, langweilt aber niemals und ist immer wieder für Überraschungen gut.
Diesmal, das nehme ich jetzt vorweg, ist er selbst die Überraschung. Wenn er hoch oben vom Turm am Bühnenrand einen auf der Bühne ausgebrochenen Streit zu schlichten versucht und dann die Leiter hinunter turnt, um sich einzumischen, hat er es natürlich auf die Lachmuskeln der Zuschauer:innen abgesehen. Mir scheint, der auf Russisch gebrüllte und gekreischte Streit geht ums Honorar (Duty). Wie er ausgeht, wissen wir nicht. Eine Tänzerin verlässt empört den Raum, die andere und der Musiker fügen sich und machen weiter im Versteck- und Konstruktionsspiel.Hier schläft die Pflicht sicher nicht. Die Bühne wird aufgebaut.
Anfangs geht es nämlich um den Gegensatz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, aber auch von lebendiger Physis (Daria und Katerina Nosik sind die schlanken, geschmeidigen Tänzerinnen) und toten Gegenständen. Mit diesen, Brettern, Paneele, Vorhänge, wird hantiert und Verstecken gespielt und schließlich, wenn der große Meister von seinem Turm herabgeglitten ist, wird alles zu einem bunten Gebilde verschraubt und in den Himmel gezogen. die Soulimenko. Voglsinger und Nosik sitzen und staunen. Wow! Es könnte ein Segelschiff sein, oder ein Haus, oder vielleicht die Welt. Oder es sind einfach die Gedanken und Träume von Oleg Soulimenko, den beiden Tänzerinnen und dem tanzenden Musiker Stefan Voglsinger. Der macht im ersten Teil eigentlich nur Lärm, indem er kontrolliert und im Takt auf seine Percussion-Geräte klopft und auch die Stille einschließt. Später wird die Performance auch von Sphärenklängen begleitet. Denn die unter dem Plafond hängende Utopie ist nicht das EndeKörperteile und Material, kurz bevor der Körper der Tänzerin ganz hinter den Brettern verschwindet. .
Auf die Stille folgt der Lärm (schon wieder ein Gegensatzpaar) in Form eines wahren Hexensabbats mit bunter Stroboskop-Beleuchtung, wallendem Nebel, wilden Kostümen und hektischen Gebärden. Das macht soviel Vergnügen, dass die verschwundene Tänzerin in wieder auftaucht und fröhlich mitmacht. Die Batterie bekommt einen goldenen Teppich und wird samt einer Tänzerin quer über die Bühne gezogen. Für kurze Zeit sind die vier Menschen eine Einheit. Dann wird die Welt wieder dunkel und still, gehend, robbend, rollend verlassen die Vier den konstruierten Planeten in verschiedene Richtung.Oleg Soulimenko, Tänzer und Choreograf mit Humor. © Manfred Werner / wikipediaDen Geduld fordernden Teil trage ich jetzt nach. Der Anfang zieht sich etwas, die beiden Tänzerinnen zeigen ihre schöne Figur, tanzen oft synchron, eng aneinandergeschmiegt, ein Doppelbild. Unter Getrommel und Lautlosigkeit probieren sie verschiedene Methoden des Verschwindens. Sie verstecken sich hinter Platten und Tüchern, mit denen sie, quasi unsichtbar, über die Bühne wandern. Das ist langwieriger friedlicher Prozess, der erst mit dem oben beschriebenen Schrei- und Streit-Terzett endet. Wenn die Aufregung abschwillt und dem Ärger die Luft ausgeht, hat der Körper Kraft gesammelt, um an der Utopie weiterzubauen. Kopf und Rumpf sind unsichtbar, die Gliedmaßen haben Schlupflöcher gefunden.
Gerne bezieht sich Soulimenko in seinen Bühnenwerken auf den Kosmismus, ein futuristisches Gedankengebäude einer russischen Künstlergruppen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Modellen des zukünftigen Menschen und den Vorstellungen vom Leben auf fremden Planeten beschäftigt hat. Für die Kosmisten bilden Himmel und Erde eine Einheit und der Mensch fügt sich harmonisch darin ein. 1929 fand die letzte Ausstellung statt, und ab 1930 begannen Verhaftungen der Mitglieder, die zur Auflösung der Gruppe führten. In vielen Aufführungen Soulimenkos sind die futuristischen Ansätze der Kosmisten zu erkennen. Falls jedoch die Verbindung zur russischen Kulturgeschichte unbemerkt bleibt, werden Vergnügen und Genuss am Bühnengeschehen nicht gemindert. Soulimenkos Œuvre hat viele dunkle Stellen und gibt auch Rätsel auf und bleibt dennoch recht konkret. Das Publikum hat die Freiheit der Interpretation. Das verdient Applaus, "Sleeping Duty" hat ihn auch bekommen.

Oleg Soulimenko: „Sleeping Duty“, Performance, 2., 3.12, 2022, Tanzquartier
Konzept, Regie, Choreografie, Performance: Oleg Soulimenko.
Choreografie, Performance: Daria Nosik, Katerina Nosik; Musik, Choreographie, Performance: Stefan Voglsinger.
Bühne, künstlerische Beratung: Alfredo Barsuglia; Kostüm: Larissa Kramarek; Licht. Sveta Schwin. Künstlerische Beratung: Asia Deinekina, Jasmin Hoffer.
Fotos: © Claude Hofer