Zum Hauptinhalt springen

Wiener Festwochen – Gemeinsamkeit oder Intimität

Vorhänge, die zeigen statt zu verbergen.

In der Halle des Museumsquartiers zeigt die belgische Künstlerin Miet Warlop ihre neue Choreografie Inhale Delirium Exhale. Regisseur Lennart Boyd Schürmann nennt die Serie seiner 1:1 Performances im ehemaligen Funkhaus Initimacies. Gegensätzlicher können die beiden Abende im Rahmen der Wiener Festwochen nicht sein. Das Theater im herkömmlichen Sinn liegt in den letzten Zügen, neue Präsentationsformen, Experimente und Aufhebung der Grenze zwischen Bühne und Publikumsraum geben dem Thespiskarren wieder neue Kraft, machen den Theater-Besuch zum Erlebnis.

Leiser Beginn des Deliriums: Kinderspiel mit Keramikhänden, die bald zerbröseln.Zwei Abende, keiner länger als 60 Minuten, doch der eine, bunt, laut, hypnotisch auf der großen Bühne im Museumsquartier, ein Erlebnis inmitten von tausend Erlebnishungrigen. Der andere, leise, intensiv, schlicht und privat, ein Liebespaar, das unaufhörliche Knarzen alter Film auf dem Computerbildschirm, ein Spiel für eine einzelne Zuschauerin. Der Berliner Regisseur Lennart Boyd Schürmann, 1994 in London geboren, experimentiert mit neuen Theaterformen. Schon für seine Abschlussarbeit an der Münchener Falckenberg Schule, Klittern, (aesopica), hat er den Preis des Körber Studio Junge Regie erhalten. Für die Wiener Festwochen hat er seine Idee der Performance als Dienstleistung  –  2024 im Sankt Pöltner Festival Tangente mit Intimate Strangers vorgestellt – erweitert. In Sankt Pölten ging es um Anonymität und Geheimnis und den Wunsch einer zahlenden Zuschauerin, den eine Performerin spielend, tanzend, sprechend erfüllt. Wenn sich die Performerinnen im Kreis der roten Stoffbahnenein- und wieder ausdrehen, gerät auch da sPublikum ins Delirium.Zuschauer / Performer oder Zuschauerin / Performer passt ebenso, das Publikum bekommt nichts vorgesetzt, sondern darf sich etwas wünschen. Intim waren die Vorstellungen auch während der Festwochen, wünschen konnte man sich lediglich durch die Auswahl des Termins die Auftretenden. 
Intimacies
heißt die Serie von Vorstellungen für eine Person. Diese darf sich beschenkt fühlen oder auch belästigt, denn die Performerinnen (Joscha Baltha, Luca Bonamore, Martina de Dominicis, Fatima Dramé, Liina Magnea, Nick Romeo Reimann + Olivia Axel Scheucher, Elena Wolff) treten mitunter aus ihrer Rolle heraus, kommunizieren mit Blicken, Gesten, Wörtern auch mit dem Gast. Regisseur Schürmann will das so. Die Stoffe, Seide und Kaschmir, tanzen mit den Performerinnen. Das Doppelspiel mag willkommen sein oder belästigend, kann amüsieren oder peinlich berühren. Die Vorstellung mit Nick Romeo Reimann + Olivia Axel Scheucher (ausnahmsweise sitzt eine Zuschauerin einem Paar gegenüber) hat zum Thema eine Teenagerliebe, das letzte Werk der französischen Schriftstellerin Violette Leduc (1907–1972. Die direkte Rede in Le Taxi hat der Regisseur mit den beiden Darstellerinnen in Gesten umgesetzt, kurze Sätze lassen den unverblümten Ton der Geschichte ahnen. Die Performance ist als Vexierspiel angelegt, der Schauplatz ist ein Taxi, doch die ineinander verliebten Geschwister träumen sich auch an andere Orte. Als Zuschauerin folgt man, und wird gleich wieder, wenn die beiden, mit Blicken Einverständnis für ihr Liebesgeplänkel heischen, erinnert, wo man tatsächlich ist: im Turnsaal, der zwei Schauspielerinnen für eine Stunde zur Bühne wird. Reimann + Scheucher sind zugleich im Taxi und im Fitnessraum, sind ein französisches Geschwisterpaar und zugleich ein junges, am Volkstheater in Wien arbeitendes Paar, ein Schauspieler und eine Regisseurin. Die direkte Wahrnehmung durch die Zwei auf der gedachten Bühne lässt die Haut kribbeln, stellt Fragen: Den Blicken antworten? Der einladenden Sehnsuchtsgeste folgen? An wen ist ihre Frage gestellt? An ihn oder mich? Wer darf sie beantworten? Muss ich? Eine Skulptur von Miet Warlop: Eine Feuersäule, riesige Klangstäbe und ein kleiner Mensch dazwischen. Lara Liebhart hätte die Antwort gewusst, doch ich habe sie nicht gefragt. Sie gibt vor jedem Besuch eine Einführung, erklärt die Basis der Aufführung, denn bei aller Intimität, es ist eine Aufführung, eine Vorstellung, ironisch und poetisch. Lara geleitet Gäste über nicht gezählte Stufen in den Keller des von den Festwochen für nahezu 40 Tage okkupierten ehemaligen Funkhauses, Haus der Republik genannt. Wortspielereien. Die Performerinnen sind immer schon da, sind schon eine literarische Person. Kein Vorhang, kein Auftritt und am Ende kein Applaus. Einsames Klatschen hört sich eher lächerlich an.  Die Stoffbahnen rieseln und fallen wie Wasser aus dem Bühnehimmel. . Bis auf die hilflosen Versuche von Performerinnen, die mitten ins Publikum trampeln, Bälle über die Rampe schießen oder wie in der Zauberschau ältere Herrschaften auf die Bühne locken, ist Kommunikation über die vierte Wand hinweg lange Zeit kaum üblich gewesen und auch nicht gefordert worden. Allmählich bekommt diese 4. Wand Löcher, die Rampe wird abgesenkt, das Auditorium wächst mit der Bühne – oft nur noch eine leere Spielfläche – zusammen. Es gibt Kommunikation auf einer Ebene, doch gleich sind die kommunizierenden Teile nicht. Hier das Publikum, dort die Künstlerinnen. Sie üben einen Beruf aus, dafür werden sie bezahlt. Das Publikum sucht Vergnügen oder Erbauung, dafür zahlt es. An diese Ordnung sind wir gewöhnt. Andere Möglichkeiten sind denkbar.  Miet Warlop zaubert eine bunte Show mit viel Stoff zum Nachdenken. Schürmanns erste Theaterarbeit ist in den Münchener Kammerspielen gezeigt worden. In der Süddeutschen Zeitung war in der positiven Kritik zu lesen. „Reine Poesie ohne die Last des Verstehenmüssens.“ Dieses Urteil kann man getrost auf Intimacies  anwenden und gleich vom Intimen ins Öffentliche springen, um auch Miet Warlops buntes Stoffbahnenspektakel als poetisch ohne die Last des Verstehenmüssens zu feiern. Inhale Delirium Exhale beginnt ganz leise. Ein Paar kniet am Boden, erzeugt mit seinen zerbrechlichen, weißen Keramikhänden beim Klatschen helle Töne. Bald sind nur noch Scherben auf dem Boden, ein blauer Vorhang saust vom Schnürboden herunter. Er bleibt nicht allein, Stoffbahnen in allen Farben werden zu Mitspielern, bauen Berge, Schlösser und Meere, rollen sich ein und wieder auf, umhüllen die Performerinnen, fordern sie zum Kampf auf. Teambesprechung vor der Uraufführung in Brüssel.Eine Tour de Force an Bildern, Farben und Tönen schwemmt dieses angekündigte Delirium in den Zuschauerraum. Einatmen, Ausatmen, Erinnerungen an das Sportstück One Song  tauchen auf, unaufhörlich rollen die Bilder heran, von oben sausen Stoffballen auf die Performerinnen, sie müssen zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden. Schweißtreibende Angriffe der bunten Stoffbrigade wechseln mit zärtlichen Begegnungen, Seide und Kaschmir (so steht es im Programmzettel) umhüllen die Performerinnen. Die Musik der Brüder Stephen und David Dewaele (DEEWEE) treibt das Delirium unaufhörlich an, Welle über Welle aus Tönen und Bildern rollt heran. Vermutlich auf drängende Fragen, was das denn das alles bedeuten soll, gibt Warlop eine Antwort. Es sei der Aufruhr in ihrem Kopf während des Schaffensprozesses. Doch das Delirium muss nicht erklärt werden, das Unerklärbare, nicht Fassbare ist das Faszinierende, reine Poesie eben, ein Gedicht zum Eintauchen ins Delirium. Stoff genug zum Nachdenken gibt es dennoch. Miet Warlop wird den belgischen Pavillon bei der kommenden Kunstbiennale in Venedig gestalten.

intimacies ist ein On-Demand-Service für performative Dienstleistungen, der individuelle Begegnungen mit professionellen Performer:innen vermittelt und konzipiert.
Konzept und Regie: Lennart Boyd Schürmann; Dramaturgie; Moritz Nebenführ;  
Mit Joscha Baltha, Luca Bonamore, Martina de Dominicis, Fatima Dramé, Liina Magnea, Nick Romeo Reimann & Livia Axel Scheucher, Elena Wolff
Office
: Lara Liebhart ; Koproduktion: , Bruch’;
Unterstützt von Richard-Stury-Stiftung ; Dank an Kolja Gollub und Amina Sceszöndy. Im Rahmen der Wiener Festwochen an drei Wochenenden von 24. Mai bis 15. Juni 2025, insgesamt 48 Begegnungen.

Miet Warlop: Inhale Delirium Exhale 
Konzept, Bühne, Regie: Miet Warlop; Musik in Zusam menarbeit mit DEEWEE Mit Milan Schudel, Emiel Vandenberghe, Margarida Ramelgate Ramalhete, Lara Chedraoui, Mattis Clement, Elias Demuynck; Im Rahmen der Wiener Festwochen, 14., 15., 16 Juni 2025.  Uraufführung: Kunstenfestivaldesarts / Brüssel, Mai 2025.  
Fotos : © Reinout Hiel.
Intimacies / Vertraulichkeiten müssen solche bleiben, deshalb können sie nicht fotografiert werden. Sämtliche Fotos zeigen Miet Warlops  Choreografie Inhale Delirium Exhale