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Julian Barnes: „Der Lärm der Zeit“, Roman

Julian Barnes, geboren 1946 in Leicester. © telegraph.co.uk

Ein ganzes Leben, das des russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch, 1906–1975, breitet Julian Barnes vor den Leserinnen aus. Doch er schreibt keine Biografie, sondern denkt sich in Stationen eines Lebens unter dem Terror Stalins hinein und bringt den Zwiespalt zwischen persönlicher Integrität, künstlerischer Kreativität und der Macht des Tyrannen und seiner Höflinge nahe. Die deutsche Übersetzung ist 2017 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, jetzt liegt die Taschenbuchausgabe von btb vor.

Schon der Originaltitel erinnert an einen Kollegen Schostakowitschs, den russischen Poeten Ossip Mandelstam. 47jährig ist er in einem sowjetischen Durchgangslager gestorben und erst nach der Auflösung der Sowjetunion, dank der Arbeit von Ralph Dutli als Übersetzer und Biograf, im deutschen Sprachraum bekannt geworden. Schostakowitsch, 1937. Die Sinfonie Nr. 5 bewahrte ihn vor weiteren Repressalien. © RIA Novosti https://mdz-moskau.eu /Barnes fiktive Schostakowitsch-Biografie ist 2016 in London unter dem Titel „The Noise of Time“ erschienen, eine Sammlung früher biografischer Schriften hat Mandelstam 1925 unter dem gleichen Titel drucken lassen. Die von Ralph Dutli übersetze und betreute Ausgabe im Fischer Verlag hat den Titel „Das Rauschen der Zeit“. So zeigt sich einerseits, dass der deutsche Titel mit „Lärm der Zeit“ weniger poetisch ist, jedoch andererseits bleibt die Assoziation mit Mandelstams Erinnerungen erhalten. Was Mandelstam selbst mit Schostakowitsch verbindet, ist die grausame Tastsache, dass beider Werke vom Massenmörder Stalin nicht geschätzt worden sind. Mandelstam stolperte letztlich über ein Gedicht, das Stalin gar nicht gefallen konnte.

Schostakowitsch wurde nicht verhaftet, aber mehrmals verhört, gequält, seine Werke wurden mit Aufführungsverbot belegt, seine Musik immer wieder als nicht regimekonform, „formalistisch und dekadent“ bezeichnet. Der Leidensweg begann 1936 mit einer Aufführung seines Opus 29, der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ (in der seltener gespielten Zweitfassung „Katarina Ismailowa“ benannt). Nach den erfolgreichen Premieren in Leningrad und Moskau 1934 stand das Werk zwei Jahre lang im Repertoire der Opernhäuser. Nahezu 200 Aufführungen sprechen vom gewaltigen Erfolg. Im Jänner 1936 besuchte auch Josef Stalin eine Vorstellung im Bolschoi-Theater und verließ mitten drin das Opernhaus, ohne den Komponisten, der ebenfalls anwesend war, zu empfangen. Dieser Affront kam nahezu einem Todesurteil gleich. Die Oper wurde sofort abgesetzt, die Kritiker änderten ihre Meinung, die Verehrer*Innen schwiegen und der Komponist selbst lebte fortan in Todesangst. Gedenktafel für Schostakowitsch an seinem Geburtshaus in St. Petersburg. © lizenzfrei / wikipedia

Mit diesem Wendepunkt im Leben von Dimitri Schostakowitsch beginnt Barnes Porträt, das weniger von Ereignissen als von Gedanken und Überlegungen des Komponisten geprägt ist. Der Komponist, der nicht aufgibt, sich aber anpassen, Zugeständnisse machen muss, um zu überleben; der seine Kräfte mit dem Seiltanz zwischen Resignation und Widerstand verschleißt. Barnes gelingt es, mir dieses Einzelschicksal (das unter Stalin keineswegs eines war) eines gequälten Künstlers und Menschen so nahezubringen, als hätte ich nicht nur den Komponisten Schostakowitsch, sondern auch den Menschen schon immer gekannt. Zugleich jedoch kommuniziert der Autor universelle Themen, lässt immer wieder über Terror und Widerstand, Freiheit und Zwang, Kunst und Politik nachdenken und wirft die Leser*innen mit Schwung auf sich selbst zurück. Was, wenn die Komponist*innen und Literat*innen, die Maler*innen, Intendant*innen und Kurator*innen wieder der Willkür eines unmenschlichen Regimes ausgeliefert sind? Was werde ich tun, wenn vorgeschrieben wird, was ich sagen, hören, sehen darf?

Schostakowitsch 1959 mit Mistislaw Rostropowitsch (li), dem er sein 1. Cellokonzer gewidmet hat. © Bayerisch Rundfunkt, Bildquelle: picture -alliance/ dpa Über die Beziehung von Kunst und Leben hat Julian Barnes schon einmal einen Roman geschrieben: „Flaubert’s Perrot“ ist 1987 erschienen und erzählt, wie am Titel erkennbar, von Gustave Flaubert, dem Autor der „Madame Bovary.“ Mit subtiler Ironie beleuchtet Barnes seinen Kollegen Flaubert durch eine Reihe von Kurzgeschichten, die durch die Flaubert-Recherche eines verwitweten Arztes zusammengehalten werden. In seiner lockeren, intellektuellen Art, mit vielen Anspielungen, ist „Flauberts Papagei“ nicht mit dem tieftraurigen Gedanken über Schostakowitsch zu vergleichen.Julian Barnes: "Der Lärm der Zeit," Cover des Taschenbuches. © btb Verlag Gemeinsam ist jedoch beiden Romanen, dass es nicht möglich ist, das Leben eines Menschen (Künstlers) authentisch zu erfassen. So ist in jeder Biografie, auch und erst recht in einer fiktiven, mehr vom Autor (der Autorin) selbst enthalten als von der porträtierten Person. 

Zurecht wurde „The Noise of Time“ unisono als „Meisterwerk“ gelobt. Ich kann mich da nur anschließen und dieses bewegende Eintauchen in die Lebensstationen Schostakowitschs und die Qualen eines Künstlers nur wärmstens empfehlen.

Julian Barnes“ Der Lärm der Zeit“, „The Noise of Time“, aus dem Englischen von Gertraude Krueger, btb, 2018Fi. 256 S. € 10,30. e-Book bei Kiepenheuer & Witsch, € 9,99.
Ossip Mandelstam: „Das Rauschen der Zeit“, gesammelte autobiographische Prosa der 20er Jahre, herausgegeben und aus dem Russischen von Ralph Dutli. Fischer Taschenbuch, 4. Auflage. 352 S. € 10,30. Gebundene Ausgabe: S. Fischer 1994, € 28,70.