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Franz Hohler: “Das Päckchen“, fast ein Krimi

Franz Hohler © Chistian Altorfer

Ernst Stricker verstrickt sich. Der Bibliothekar hört das Telefon in einer Zelle läuten und hebt ohne Nachzudenken ab. Eine ihm fremde Frau redet ihn mit seinem Vornamen an und bittet ihn, sie umgehend zu besuchen. Wer A sagt, muss auch den Besuch wagen. Und damit beginnt eine wundersame Geschichte, die bis ins Mittelalter zurückführt und auch auf die Gletscher des Jungfrauengebiets in der Schweiz. Autor Franz Hohler ist Schweizer, lebt in Zürich ,und wenn er nicht auf die Berge kraxelt, schreibt er. Zum Beispiel einen Roman voller Geheimnisse und Überraschungen: „Das Päckchen“.

Eine Seite aus dem Abrogans (Codex_Sangallensis) © Virtual_Manuscript_Library_of_SwitzerlandDieses Päckchen spielt die Hauptrolle in der Geschichte. Als Ernst es endlich öffnet, findet er eine Zimelie, eine Ausgabe des ältesten Buches deutscher Sprache, als „Abrogans“ bekannt. Wie die wertvolle Handschrift, vielleicht sogar das verschollene Original, in die Hände der Witwe gekommen ist, beschäftigt Ernst so sehr, dass er keine Zeit findet, seiner Frau von dem unverhofften Fund zu berichten. Wie soll er ihr auch erklären, wie er zu dem Päckchen gekommen ist. Unrechtmäßig. Die bisher unbekannte Frau hält ihn nämlich für ihren Neffen, dem sie das Buch zur Aufbewahrung geben will. Vom Wert hat sie keine Ahnung. Sie hat die Hinterlassenschaft ihres Ehemannes auch nie inspiziert.
Das unverhoffte Geschenk wirft ihn aus der Bahn, eine Lügenschichte gebiert die nächste. Die verfallene Berglihütte, fotografiert von Jean Louis Pitteloud. ©  http www.camptocamp.orgBevor Ernst weiß, was er mit dem Fund machen wird, muss er seine Herkunft erforschen und den Spuren des ehemaligen Besitzers nachgehen. Dabei erfährt er, dass sich auch andere für den Schatz interessieren. Die Recherchen sind aufwändig, anstrengend und kosten Zeit. Für seine Frau und in der Bibliothek, seinem Arbeitsplatz, muss er immer neue Ausreden erfinden. Bald findet er aus dem Lügengebäude nicht mehr heraus. Die Verwicklungen werden immer gefährlicher, nicht nur weil der Tod der Tante auch den richtigen Neffen auf den Plan ruft. In der verlassenen Berglihütte auf dem Jungfrauenjoch lernt Ernst das Fürchten und lässt sich hinreißen, jeglicher Vernunft abzuschwören und solo über den Gletscher zu gehen. Es kommt, wie es kommen muss.

Doppelseite aus dem mehr als 1000 Jahre alten Wörterbuch. © Virtual Manuscript Library of SwitzerlandDer Codex Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, ist von Mönchen im 8. Jahrhundert geschrieben worden und auf manchen Seiten auch allerliebst mit Farben und Ornamenten verziert. Hohler führt seine Leserinnen in die eisigen Skriptorien der Klöster und lässt den verliebten Novizen Haimo seine eigenen Abenteuer bestehen. Die Pest macht der Liebe und dem Leben ein Ende. Haimo und der Abrogans erreichen nicht das vorgesehene Ziel. Doch wenn alle Geheimnisse gelüftet, alle Flunkereien aufgeklärt und verziehen sind, wird Ernst das unersetzliche Buch wieder dorthin bringen, von wo es entwendet worden ist.Buchcover © Luchterhand

Franz Hohler ist ein wunderbarer Erzähler, der aus simplen Zufällen spannende und tiefsinnige Geschichten entwickelt, klare einfache Sätze schreibt, ohne Manierismen und Schnörkel. Wenn es um die Geschichte des Abrogans (der Titel ist vom ersten Wort des Wörterbuchs genommen: abrogans– dheomodi / Demut) geht, lässt er seine Fantasie spielen, auf den Bergen und in Bern, wo Bibliothekar Ernst in die Telefonfalle tappt und zum Neffen wird, kennt sich Hohler bestens aus. So können die Leserinnen alles genießen: Realität und Erfindung, in der mehr als ein Körnchen Wahrheit ist.

Franz Hohler. „Das Päckchen“, Luchterhand 2017. 224 S. € 20.60