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Wiener Festwochen: Lia Rodrigues. „Borda“

Die Companhia de Danças aus Rio de Janeiro

Für das neue Stück der hochgeschätzten brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues braucht man viel Geduld. Bis in den Herbst hinein reist die Companhia de Danças von Festival zu Festival durch halb Europa. Borda bedeutet Grenzen, aber auch Stickerei. Die Grenzen sollen fallen, die gestickten, bunten Verzierungen unterhalten. Das im Mai im Kunstenfestivaldesarts präsentierte Tanzstück hat auch bei den Wiener Festwochen, im Museumsquartier Station gemacht. Und ist erwartungsgemäß lautstark akklamiert worden.

Choreografin Lia Rodrigues bei der Arbeit. ©  telerama.frAnfangs starrt man gebannt ins Schwarze. Nur ganz unten an der Rampe wagt sich ein Lichtschimmer hervor, wird breiter, höher, Konturen zeichnen sich ab im allmählichen Sonnenaufgang. Eine Burg entsteht, ein Schloss, Berge, Figuren kristallisieren sich heraus, unter raschelndem Stoff, knisternder Folie bewegen sich Figuren. Es sind sonderbare Wesen, unförmig, mit Gesichtern ohne Köpfe, mit Dicken Auswüchsen in weißen Hüllen, armselige Wesen, die sich zusammenrotten, zu einer sich in aller Stille im Zeitlupentempo verändernden Skulptur werden. Sonderbare Wesen bewegen sich in Zeitlupe unter ihren Verhüllungen. Eine Babypuppe fliegt über die Köpfe, ein Paar kuschelt, die fremdartigen armseligen Wesen verschwinden wieder unter den weißen Textilien, werden zum leblosen Gebilde. Das Publikum wartet gespannt auf die Auflösung des Rätsels. Kein Husten stört die absolute Stille.
Ein leises Singen ist zu vernehmen, ein Fiepen eher, die sonderbaren Figuren werden menschlich. Neun Performerinnen schälen sich aus ihren Hüllen, formen die weißen Stoffe, Polster und Körpererweiterungen sie zu einem Fluss, dem sie entlangwandern. Diese erste Hälfte des Abends ist durch die weißen Stoffbahnen und Körperhüllen nahezu farblos und stumm, nur das Rauschen, Rascheln und Knistern der reichlich verwendeten Materials ist zu vernehmen.
Die Gestalten verlassen ihre Hüllen, formen die Textilien zu einem Weg, den sie entlang gehen. Doch plötzlich scheint ein Riss durch diesen kollektiven Körper zu gehen, die weißen Wesen verwandeln sich in bunte Individuen, die spannende Stille wird durch lustvollen Lärm vertrieben, aus der Einheit wird Vielfalt. Die aus den Favelas von Rio de Janeiro stammenden Mitglieder der Companhia de Danças scheinen in ihrem Element. Alle tanzen und springen, singen und jauchzen, wiegen sich zu den Schlägen des monotonen Beats. Karneval in Rio! Eine Parodie auf das europäische Klischee? Eine Hommage an die vermuteten Erwartungen des Festivalpublikums? Auf jeden Fall viel zu lang und daher langweilig. Dieses Bild sollte bunt sein, Sammi Landweer hat auch den Folkloreteil in sw fotografiert. Der Choreografin gelingen wunderbare, überraschende und eindrucksvolle Bilder. Unter einem orangeroten Schirm zeigt sich eine Tänzerin mit acht Beinen, aus einer tanzenden Reihe leuchten nackte Hinterteile ins Publikum und zwischen tanzenden Beinen grausig grimassierende Gesichter auftauchen. Ein Mann im Schottenrock tanzt ebenso in diesem Karneval wie ein Pharao, ein Kaiser und eine Zarin. Die Grenzen von allem, Geschlecht und Hautfarbe, Rasse und Cancelkultur und was sonst noch an Barrieren errichtet wird, fallen.Doch der gedehnte Unterhaltungsteil überdeckt jegliche angekündigte Aussage der Choreografie. Borda beginnt als rätselhafte Performance im Dämmerlicht und wandelt sich dann zu einem Tanzfest, wie es das vom Tourismus geprägte Brasilienbild  verlangt. Der Jubel am Ende war keine Überraschung, die Companhia hat ihn auf jeden Fall verdient. Damit ein wenig Karnevalstimmung aufkommt, eine Erinnerung an Encantado°, Wiener Festwochen 2022, Foto, wie alle von Sammi Landweer.
Lia Rodrigues, die ihre Companhia de Danças 1990 gegründet hat und in den Favelas von Rio ein Kunst- und Ausbildungszentrum, das Centro de Artes da Maré, leitet und in Frankreich mit Titel eines Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet worden ist, ist bei den Wiener Festwochen keine Unbekannt. 2019 hat sie das Publikum mit Fúria hingerissen, 2022 war die Companhia de Danças mit großartigen Ballett Encantando zu Gast in Wien. Diese beiden Veranstaltungen waren im vergleichsweise kleinen Odeon zu sehen, Borda ist in der großen Halle E im Museumsquartier zu sehen. Passend für ein Tourneeprogramm: Brasilien grüßt Wien.

Lia Rodrigues / Companhia de Danças: Borda
Konzept: Lia Rodrigues
Tanz und Zusammenarbeit mit Leonardo Nunes, Valentina Fittipaldi, Andrey da Silva, David Abreu, Raquel Alexandre, Daline Ribeiro, Sanguessuga, Cayo Almeida, Vitor de Abreu, João Alves, Cayo Almeida, Vitor de Abreu.
Zusammenarbeit Choreografie: Amalia Lima;  Dramaturgie: Silvia Soter; Licht Nicolas Boudier; Inspizienz, Lichttechnik: Magali Foubert, Baptistine Méra;  Soundtrack: Miguel Bevilacqua;  Mixing, Mastering: Ronaldo Gonçalves Internationale Gastspiele International Booking: Colette de Turville :
Künstlerische Zusammenarbeit, Fotograf: Sammi Landweer