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Brücken aus Papier zwischen gestern und heute

Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana, aufbewahrt in der ÖNB. © gemeinfrei

Um die Gegenwart zu verstehen, müssen wir die Vergangenheit kennenlernen. Dabei helfen Bücher, in ihnen ist die Geschichte, sind auch Geschichten aufgezeichnet. Die Buchrestauratorin und Antiquarin Sarah und ihr Begleiter, der Bibliothekar Benjamin Ballantyne, sind sich darüber einig. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach einer alten Landkarte. Elisabeth Beer erzählt mit ihrem Roman, Die Bücherjägerin, eine bezaubernde Geschichte, die nicht allein ein Reisebericht ist, sondern auch von einer Zeit der Trauer und einer Zeit der Liebe berichet.

So ziemlich alles, was von Tante Amalia geblieben ist, zwei Landschildkröten namens Bonnie und Clyde. © Symbolbild / Wikipedia Sarah war erst zehn Jahre alt, als sie und ihre jüngere Schwester die Eltern verloren. Das Forscherehepaar war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Tante Amalia, die Schwester der Mutter, rettete die beiden Mädchen vor dem Waisenhaus. Sie zogen zu ihr in die labyrinthische Villa mit Park und zwei Schildkröten in Köln-Marienburg. Tante Amalia lebte in einem staubigen Labyrinth. Sie war Antiquarin und Büchersammlerin, suchte auf Wunsch auch nach verschollenen Werken. Mit ihrem Charme und Fachwissen war sie zu einer angesehenen Figur in der Bücherwelt geworden, um die roten Zahlen auf ihrem Konto kümmerte sie sich weniger. Den Nichten hat sie eine warme Zuneigung, eine unkonventionelle Beziehung und einige weise Sprüche hinterlassen. Sarah liebte und verehrte sie und fiel aus allen Wolken, als Tante Amalia plötzlich an Krebs verstarb. Die alten Folianten türmen sich im ganzen Haus. Sarah ist Prinzessin in einem staubigen Papierpalast. © pixabayDie Liebe zum beschriebenen Papier und zu den Büchern hatte sie von der Tanze übernommen. Um in dieser Welt arbeiten zu können, war sie Buchrestauratorin geworden. Nach dem Tod Amalias musste sie nolens volens auch deren verschuldetes Unternehmen übernehmen. Im ersten Jahr war sie damit beschäftigt, den Bestand an wertvollen und weniger kostbaren Werken, der sich in der gesamten, mehrflügeligen Villa ausbreitet hatte, zu sichten und zu ordnen.
Mit der jüngeren Schwester Milena, die mit Mann und Kindern in Köln lebt, hat sie kaum noch Kontakt. Das Leben, das sich die brave Hausfrau und Mutter eingerichtet hat, ist Sarah zuwider, sie bleibt lieber allein.Eine der vielen Villen in Köln Marienburg. So ähnlich könnte Tanta Amalias Papierpalast aussehen. © www.ansichtskartenversand.com/ Sie tut sich auch schwer, mit anderen zu kommunizieren, Menschenmengen machen sie nervös, manche halten sie für komisch. Schon als Teenager hat sie erkannt, dass sie „anders“ war. Als erwachsene Frau hat sie sich damit abgefunden, sich in ihr staubiges Labyrinth zurückzuziehen und sich mit Bonny und Clyde, den beiden von Tante Amalia hinterlassenen Schildkröten, als Gesellschaft zu begnügen. Bis eines Tages das Geläut des Big Ben erklingt, das Tante Amalia als Türglocke installiert hat. Und was Tante Amalia und Marotten angeht, wird nichts verändert. Noch nach einem Jahr wird Sarah immer wieder von Trauer um den Verlust überwältigt. Aber jetzt muss sie öffnen, schließlich will, ja muss sie auch verkaufen. Unwillig geht sie an die Tür und lernt Benjamin Ballantyne kennen, der eigentlich Amalia sucht, denn sie weiß offenbar, wie er für die Britische Bibliothek das fehlende Stück einer berühmten römischen Straßenkarte finden kann.Wo Benjamin Ballantyne arbeitet: die  British Library in London. © wikipedia
Diese Straßenkarten, die Tabula Peutingeriana, ist eine sechs Meter lange Rollkarte, die im späten 12. Jahrhundert angefertigt worden ist. Die Vorlage stammt aus karolingischer Zeit, die wiederum auf das Original einer römischen Straßenkarte zurückgeht. Das mutmaßliche Original der Straßenkarte aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts (ca. 375 n. Chr.) enthielt eine grafische Darstellung der damals bekannten Welt, in der die Straßen als Verbindungslinien zwischen einzelnen Etappenorten eingetragen waren. Zu sehen ist das römische Straßennetz (viae publicae) im spätrömischen Reich von den Britischen Inseln über den Mittelmeerraum und den Nahen Osten bis nach Indien und Zentralasien. Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana mit der Bezeichnung Arbor Felix Brigantio. Das Gewässer ist der Bodensee;  Brigantium hießen mehrere römische Kastelle im Raum von Bregenz.  © gemeinfreie / ÖNBDie Straßenkarte ist nach Konrad Peutinger (1465–1547) benannt und zählt zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Jede Wienerin, jeder Wiener und sämtliche Wien-Besucher:innen können diese Zimelie, ein Rarissimum, besichtigen. Die Tabula Peutingeriana ruht in der Österreichischen Nationalbibliothek. Das mittelalterliche Dokument ist in 12 Segmente geteilt, wobei das Segment I, Hispania, Britannia, verloren gegangen sein dürfte. Doch Benjamin Ballantyne, für Forschung und Beschaffung in der britischen Nationalbibliothek (British Library) zuständig, hat sich in den Kopf gesetzt, dieses verschwundene Segment für seine Auftraggeberin zu finden. Eine Nachricht von Amelia deutete an, sie wüsste mehr darüber als andere.  Audley End House in Essex scheint ein lohnendes Ziel zu sein. ©  john Fielding/ Wikipedia
Als Sarah die schwere Tür öffnet, sieht sie einen „unbekannten Mann in einem beige gestreiften Anzug, der einen schönen Kontrast zu seiner dunklen Haut bildet(e)“. Ihre Augen bleiben an den seinen, „braun, groß und von dunklen Wimpern gerahmt …“ hängen. Das eine Happy End, das private, steht also bereits fest, es dauert nur bis zu den letzten Seiten des Romans, bis Sarah es auch weiß. Das andere Ende, das öffentliche, weiß man auch, das fehlende Segment bleibt unauffindbar, es existiert jedoch eine Rekonstruktion.
So interessant und auch abenteuerlich die Recherche-Reise von Sarah und Benjamin ist, was dieses Roman-Debüt von Elisabeth Beer auszeichnet, ist das Nichtgesagte, Themen, die in der realen Welt so wichtig erscheinen, wie Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Ausrichtung, Normalität und Andersartigkeit sind implizit erzählt, werden aber nicht explizit angesprochen. Es gibt keine Diagnosen, die Leserin kann sich ihren Teil denken.Das prächtige Schloss von Audley End House, wo Benjamin und Sarah das fehlende Segment zu finden hoffen.. © Dass die Welt, in der wir leben, divers ist, die Menschen so unterschiedlich sind wie Fauna und Flora, istds grundlegende Tema des Romans. Um diese Diversität auch sprachlich sichtbar zu machen, hat sie eine besondere Form des Genderns erfunden. Sie wechselt einfach mit allen möglichen Formen ab, verwendet das in Verruf geratene Binnen-I und Sternchen, benutzt einmal nur das generische Femininum und ein anderes Mal das Maskulinum. Niemand soll ausgeschlossen sein, „ich hoffe“, schreibt sie im Nachwort, „durch die Verwendung verschiedener Formen fühlen sich alle gleichermaßen angesprochen.“ Das berühmte Labyrinth, TurfMaze genannt, im Park von Saffron Walden / Audley End House. Sarah macht es wie die spielenden Kinder, sie geht es genau ab. © wikipedia
Sarahs Bericht wechselt ständig zwischen der Aktualität der Reise nach Frankreich und England und der Vergangenheit in Köln mit Tante Amalia und der kleinen Schwester, was Gelegenheit gibt, nicht nur Blicke in ihr Temperament und die Weltsicht der Tante zu werfen, sondern auch andere mitspielende Personen kennenzulernen. Etwa Amalias Freund Jean, der als Einsiedler ohne Internet und Telefon in der Champagne lebt, oder Matthieu, Amalias große Liebe. Beide Männer leben natürlich auf der papierenen Brücke, die das Gestern mit dem Heute, die Toten mit den Lebenden verbindet. Benjamin drückt das so aus:

Dass dieses Wissen eine Brücke ist zwischen uns und all den unzähligen Menschen, die vor uns kamen. Eine Brücke und Verbindung zu unserer Herkunft. Zu uns selbst, wenn du so willst. Eine Brücke aus Papier. Und wenn diese Brücke verloren geht, all die guten und schlechten Dinge vergessen werden, sind wir heimatlos und verlieren uns vielleicht selbst irgendwann. Wenn wir vergessen, was wir einander angetan haben, können wir auch nicht lernen, es besser zu machen.

Auf dieser Reise mit Benjamin lernt Sarah auch loszulassen, sich von Tante Amalia zu verabschieden und die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen. Ein Stück des heutigen Italien auf dem Teil  Friuli der Tabula Peutingeriana. © gemeinfrei / wikipediaAperçu: Sarah bleibt viel zu lange in der Vergangenheit hängen, kann sich von der verstorbenen Tante nicht trennen. Auch die Autorin und der Verlag sind noch nicht wirklich in der Gegenwart angekommen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass die Tabula Peutingeriana in der „Wiener Hofbibliothek“ verortet wird? Der Humanist und Diplomat Konrad Peutinger war im Besitz einer Kopie der wertvollen römischen Straßenkarte. © Wikipedia Die Hofbibliothek ist seit mehr als 100 Jahren nicht mehr existent, die Sammlung in der Neuen Burg (Zugang zum Lesesaal vom Heldenplatz, zur Sammlung vom Josefsplatz aus) ist als Österreichische Nationalbibliothek bekannt. Hinweise auf die tatsächlich dort lagernde Tabula finden sich auch im Internet. Dort findet sich folgende interessante Anmerkung: Karte in 11 Segmenten (ursprünglich Rolle); Conrad Celtis (1459-1508) vermachte die Karte Konrad Peutinger (1463-1547) ... Karl Gustav Heräus (Wien, kauserl. Antiquitäteninspektor) erwirbt die Karte für Prinz Eugen. Betroffen ist die mittelalterliche Replik, eine Trouvaille, gefunden vom genannten Conrad Celtis. Buchcover „Die Bücherjägerin“,  © Dumont Verlag Die 63 Kapitel in dieser flüssig erzählten Geschichte sind mit hübschen und sprechenden Überschriften geschmückt, nur der Buchtitel selbst klingt nicht wirklich wie Musik. „Die Bücherjägerin“, das ist verhatschter Krampf, zumal ja nicht nach einem Buch, sondern nach dem Teil einer Straßenkarte gejagt wird. Im Klappentext wird das Debüt der Mittdreißigerin „warmherzig und feinhumorig“ bezeichnet, womit eher die Autorin gemeint sein dürfte. Erfreulich ist, dass die Vorsatzblätter mit einem Ausschnitt, dem Segmentum VII, aus der Tabula Peutingeriana verziert sind. Wie auch immer, die Lektüre dieses klugen und unterhaltsamen Romans von Elisabeth Beer ist wärmstens zu empfehlen.

Elisabeth Beer: „Die Bücherjägerin“, 432 Seiten, Dumont 2023. € 23,70. E-Book: € 18,50.