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Lynchmord als Volksfest mit Picknick

Laird Hunt, in den USA mit acht Romanen bekannt. © Eva Sikelanos-Hunt

Der amerikanische Autor Laird Hunt hat einen schockierenden Roman geschrieben, der durch die Tatsache, dass er auf einem wahren Ereignis beruht, noch tiefer unter die Haut geht und schmerzt. „Die Vögel sangen ihre letzten Lieder“ ist ein viel zu lieblicher Titel für diesen Bericht über den öffentlich geplanten Mord an drei jungen Männern. „The Evening Road“ heißt der 2017 erschienene und von Kahtrin Razum 2022 übersetzte Roman im Original.

Das Gerichtsgebäude in Grant County /Marion, Indiana, wo die Lynchmorde stattfanden, die dem Roman zugrunde liegen. © Chris Light at English WikipediaZwei Frauen erzählen von einem heißen Sommertag, an dem das Volk in Sonntagskleidern, den Picknickkorb in der einen Hand, die Kinder an der anderen, zum Gerichtsgebäude von Marvel pilgert, um zuzusehen, wie drei junge Männer ermordet werden. Sie kommen von überall her, zu Fuß und mit gemieteten Bussen, mit alten Autos und Fahrrädern. Die staubigen Straße sind verstopft, in den Gemeindehäusern wird ein Mittagessen und Wasser verteilt, in den Kirchen wird noch schnell gebetet. Die Figuren sind fiktiv, die Zeit nicht festgelegt, auch der Ort, Marvel, existiert nicht, nur die drei jungen Männer, über die nichts Näheres erzählt wird, haben tatsächlich gelebt. Ottie Lee und Calla, Reisende wie all die anderen Neugierigen, die zum Ereignis des Jahres zurechtkommen wollen, berichten, was sie sehen und erwarten. Mitglieder des US Geheimbundes Ku Klux Klan, die den Lynchmob angefeuert haben. Allerdings in Indiana ohne Feuerkreuz. © Jim Lo Scalzo/dpa

Was damals passierte, ist tief ins kollektive Gedächtnis der Bewohner:innen von Indiana eingegraben:

Am 7. August 1930 entführte ein Mob von schätzungsweise 5.000 Menschen drei afroamerikanische Männer, Thomas Shipp und Abram Smith, beide 19, und Le Petit Journal berichtet  1906 in einer Titelgeschichte über Lynchmorde in den USA © wikipedia, 16, aus dem Bezirksgefängnis. Sie wurden eines Raubmordes und einer Vergewaltigung verdächtigt. Die ersten beiden wurden an Bäumen auf dem Gerichtsplatz erhängt. Cameron wurde verschont und wurde später ein Bürgerrechtsaktivist. Die Vergewaltigung wurde zwar nie bewiesen, aber solche Anschuldigungen, auch wenn sie unbegründet warn, wurden von rassistischen Weißen leicht übernommen und dienten häufig dazu, Lynchmobs zu noch größeren Gräueltaten anzustacheln. Zitiert aus „Legends of Amerika, Lynching.

Die Vergewaltigung wurde zwar nie bewiesen, aber solche Anschuldigungen, auch wenn sie unbegründet waren, wurden von rassistischen Weißen leicht übernommen und dienten häufig dazu, Lynchmobs zu noch größeren Gräueltaten anzustacheln. Dies war der letzte Lynchmord in Indiana.  Zitiert aus Wikipedia.

Cameron wurde als Mittäter verurteilt und eingesperrt. Nach seiner Freilassung auf Bewährung promovierte er als Ingenieur und widmete sein Leben der Förderung der Bürgerrechte, der Einheit der Rassen und der Gleichheit. 1988 gründete er America's Black Holocaust Museum in Milwaukee. 1982 veröffentlichte er, inzwischen  mehrfach preisgekrönt und geehrt, seine Erlebnisse im Sommer 1930: „A Time of Terror: A Survivor`s Story“ („Eine Zeit des Terrors. Eines Überlebenden Geschichte“) aus dem der zitierte Bericht stammt: Der Bürgerrechtsaktivist James Cameron, 1914–2006. Er entkam den Mördern und hat Jahre später seine Erlebnisse niedergeschrieben. © wikipedia

Tausende von Indianans, die Spitzhacken, Fledermäuse, Axtstiele, Brechstangen, Fackeln und Schusswaffen trugen, stürmten das Gerichtsgebäude von Grant County, entschlossen, "diese gottverdammten N***er zu erwischen". Ein Trommelfeuer von Steinen zerschmetterte die Fenster des Gefängnisses und trieb Dutzende von verzweifelten Häftlingen auf die Flucht. Der sechzehnjährige James Cameron, eines der drei vorgesehenen Opfer, war wie gelähmt vor Angst und Unverständnis und erkannte in der Menge vertraute Gesichter - Schulkameraden und Kunden, deren Rasen er gemäht und deren Schuhe er geputzt hatte - als sie versuchten, die Tür des Gefängnisses mit Vorschlaghämmern aufzubrechen. Viele Polizeibeamte mischten sich draußen unter die Menge und scherzten. Drinnen warteten fünfzig bewaffnete Wärter. […] Nachdem Souvenirjäger die blutigen Hosen von Abram Smith aufgeteilt hatten, wurde sein nackter Unterkörper in ein Klan-Gewand gekleidet - nicht unähnlich dem Lendenschurz in traditionellen Darstellungen von Christus am Kreuz. Lawrence Beitler, ein Studiofotograf, nahm dieses Foto auf. Zehn Tage und Nächte lang druckte er Tausende von Kopien, die für fünfzig Cents pro Stück verkauft wurden.

Die Lynchmorde an Thomas Shipp und Abram Smith, ermodert in Marion, Indiana, am 7. August 1930. Detail einer Fotografie von Lawrence Beitler. © wikipedia Laird Hunts Roman basiert auf dieser verbrieften Gräueltat, doch dient ihm dieses Ereignis weniger zu dessen Schilderung als zur Zerstörung des Mythos von der Überlegenheit der weißen Männer und der Reinheit der weißen Frau, die sich vor schwarzen Männern fürchten muss. Ottie Lee, die als erste von der Reise nach Marvel erzählt, ist nicht gerade ein Vorbild an Unschuld, sie lässt sich von ihrem Chef begrapschen und spitzt ihre Bleistifte, um ihn damit zu ermorden. Doch das ist nur ein Spiel, sie erhält für die Fummelei ein paar Dollar mehr, der Ehemann geilt sich beim Zusehen auf. Ganz anders Calla, die zwar wie Ottie Lee im Waisenhaus aufgewachsen ist, jedoch von einem weißen Ehepaar als Dienstmädchen aufgenommen wird, gebildet ist und sich nicht des von Ottie Lee verwendeten Slangs bedient. Von ihrem Freund hat sie sich getrennt, um sich mit einem machtgierigen, demagogischen Politiker einzulassen. Calla ist eine mutige junge Frau, die sich wehrt, als der Liebhaber sie fallen lässt. Sie gerät unversehens mitten in den entmenschten Mob vor dem Gerichtsgebäude in Marvel.Billie Holiday hat den Anti-Lynchmorde-Song "Strange Fruit" bekannt gemacht.  © Fotografie von Carl van Vechten 1949, gemmeinfreiDie Jazzsängerin Billie Holiday (1915–1959) hat 1939 im Café Society das von Abel Meeropol komponierte und getextete Lied „Strange Fruit“ weltweit bekannt gemacht. Dieser aufwühlende Song von der "sonderbaren Frucht", die an Bäumen hängt, wendet sich gegen die Lynchmorde in den USA und wurde in den Südstaaten nicht gerne gehört. In Alabama ist Holyday ,als sie dias Lied annstimmte, von der Bühne gejagt worden. Sie wusste, dass es jedes Mal Ärger geben würde, wenn sie vom "schwarzen Körper, der im Südstaatenwind baumelt" singen würde. Der Ausdruck Strange Fruit hat sich als Symbol für Lynchmorde etabliert.
Hannah Arendt:„Ein Bericht von der Banalität des Bösen." Buchcover. © Piper Verlag Hunt ist weniger drastisch, er hat sich sogar dafür entschieden, die Adjektive „schwarz“ und „weiß“ nicht zu verwenden, sondern lässt die beiden Frauen von „Maishaaren“, „Maiswurzeln“ „Maisseiden“ reden. Es ist wohl Absicht, dass es schwierig ist, zu unterscheiden, zu welcher Gruppe die Personen gehören. Doch während die Menge über die Straßen zum Lynchfest strömt und die Sonne immer höher steigt, kristallisiert sich heraus, dass es die Bösen da und die Guten dort gar nicht gibt. Alle tragen sie beides in sich, das Gute und das Böse. Von der „furchtbaren Banalität des Bösen“ spricht Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1961 – und wurde vielfach missverstanden.
Laird Hunt spricht es nicht aus, doch er zeigt es, wenn er erzählen lässt, wie alltägliche Familien, Mütter und Väter aus Sensationsgier, Rassismus und Opportunismus einen freien Tag opfern, um zuzuschauen, wie junge Männer ohne Gerichtsurteil auf Bäume geknüpft werden. Laird Hunt: "Die Vögel sangen ihr letzten Lieder" / "The Evening Road", Buchcover. © btb Verlag Aus den netten Familien ist im Sog des Ku-Klux-Klan ein mordlustiger Mob geworden.
Der Autor will nicht daran glauben und gestaltet das Ende märchenhaft. Die „Engelsbotin“ Sally tritt auf und will alle Manchen in die Kirche führen, um für „diese Jungs in Marvel“ zu beten. Besonders erfolgreich ist sie nicht, aber sie betet wenigstens allein ziemlich lange, lässt danach ihren Pritschenwagen stehen und fährt mit dem geschenkten Fahrrad, das Roscoe, der verlassene Freund von Calla, wie er zugibt, gestohlen hat. Offenbar haben „ihre Engel“ das erlaubt. Ein tröstliches Ende, doch die Historie lehrt, auch wer daran glaubt, wird nicht selig.

Laird Hunt: „Die Vögel sangen ihre letzten Lieder“, Originaltitel: „The Evening Road“, aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum, btb, 2022. 288 Seiten. € 12,40. E-Book: € 9,99.
Hannah Arendt: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, Das umstrittenste Buch der Philosophin in neuer Ausstattung, herausgegebenen von Thomas Meyer, übersetzt von Brigitte Granzow. Neu aufgelegt, Piper 2022. 560 Seiten. € 16,50.