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Tayari Jones: „Das zweitbeste Leben“, Roman

Erfolgsautorin Tayari Jones. © Nina Subin

Tayari Jones, geboren 1970 in Atlanta, Georgia, ist eine preisgekrönte Romanautorin. Als Barack Obama ihren jüngsten Roman „An American Marriage / In guten wie in schlechten Tagen“ 2018 auf seine Leseliste gesetzt hat, schnellten die Verkaufszahlen rapide in die Höhe. Der jetzt übersetzte Roman über zwei Familien, die ein Geheimnis teilen, in dessen Mittelpunkt zwei Mädchen heranwachsen, ist schon 2011 erschienen und spielt, wie alle Romane Jones, in Atlanta, wo BPoC (Black and People of Colour) die Mehrheit sind. Geheimnisse gebären Lügen, die Granate muss irgendwann gezündet werden. Das Desaster ist programmiert.

In Atlanta leben sowohl die Autorin wie auch ihre Figuren. © Daniel Mayer / wikipediaDana und Chaurisse leben ihn unterschiedlichen Welten, sie kennen einander nicht, doch sie haben denselben Vater: James Witherspoon. Es gibt also zwei Familien, die offizielle, man könnte sagen bürgerliche, mit Tochter Chaurisse, Mutter Laverne und deren Ehemann James, und die inoffizielle mit Dana und ihrer Mutter Gwendolyn Yarboro. Auch Gwendolyn und James sind verheiratet, geheim und quasi illegal – in den USA sind die Gesetze andere als in Europa. Doch diese Ehe muss geheim bleiben. James ist auch für Dana ein liebevoller Vater, aber von ihr und Gwendolyn darf niemand wissen. Die beiden wissen jedoch sehr wohl, dass da noch eine andere Frau und eine andere Tochter, gleich alt wie Dana, existiert. Dana, die den Hauptteil des Romans erzählt (in der Mitte kommt auch die ahnungslose Chaurisse zu Wort), versucht dieses andere Mädchen kennen zu lernen. Das ergibt sich von selbst, als die beiden im gleichen auffallenden Mantel begegnen und Chaurisse, so einsam und hungrig nach Freundschaft wie Dana, sie anspricht: „Den Mantel hat mir mein Vater geschenkt.“ Im berühmten Bezirk "Sweet Auburn" wohnt die "zweitbeste" Tochter, Dana. Auf der Mauer abgebildet: Bürgerrechtskämpfer John Lewis, * 1940 in Atlanta. © freelicense Dana ist zwar enttäuscht, dass sie nicht die Einzige ist, die James beschenkt hat, antwortet aber tapfer: „Meiner ist auch von meinem Vater“. Die Erklärungen, die James den Töchtern gibt, sind unterschiedlich, und Dana weiß, dass sie in einer Welt voller Lügen lebt. Ihre Mutter hat zwar eine Heiratsurkunde, die sie vorzeigen wird, doch in Danas Geburtsurkunde hat Onkel Raleigh als Vater unterschrieben. Er ist mit James aufgewchsen und klebt an ihm wie ein Schatten. Auch Raleigh weiß von den beiden Familien und kennt beide Mädchen.

Chaurisse hängt sich an die neue Bekanntschaft, will unbedingt Danas Freundin werden.Könnte gestern gewesen sein, war jedoch vor mehr als 50 Jahren. Die Mutter der Autorin war möglicherweise dabei. © freelicense Sie bewundert das Mädchen, das sie bei sich ein Silbermädchen nennt. Sie hält sie für das schönste Mädchen überhaupt und fühlt sich selbst als grauer Spatz. „Silver Sparrow“ ist auch der Titel der amerikanischen Ausgabe. Dana wiederum beneidet Chaurisse um die imaginierte Familienidylle.
Was kann es im Teenageralter mit all den wichtigen weiblichen Themen Schöneres geben, als eine Freundin zu haben, der man sich anvertrauen kann. Vor allem Chaurisse genießt dieses Gefühl, Dana bleibt neugierig, will mehr erfahren über die ihr glücklich scheinende Familie. Dass das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter Gwen etwas Besonderes ist, erkennt sie nicht. Als die beiden Mädchen auf der Fahrt zu einem Fest eine Autopanne haben, ruft Chaurisse ihren Vater zu Hilfe. Dana gerät in Panik. Im Friseurstudio von Chaurisses Mutter Laverne kommt es zum Eklat und kein Stein bleibt auf dem anderen. Die Teenagerjahre der beiden Mädchen sind zu Ende, sie müssen erwachsen werden. Dana sieht ihren Vater nie wieder, doch er erkennt nicht, dass sein Doppelleben die zündende Granate war und gibt der SchattentocDas Geburtshaus von Martin Luther KIng in Atlanta. © www.nps.gov/hter die Schuld.

Tayari Jones siedelt ihren Roman in den 1980 Jahren von Atlanta an, betont aber in allen Interviews, dass die Geschichte von Dana und Chaurisse erfunden ist, lediglich auf der Zeitlinie folgt sie ihrem eigenen Leben. Ihre Eltern gingen zwanzig Jahre davor, als Menschenrechtsaktivist*innen für die Gleichberechtigung der Schwarzen (ein Begriff, der in den 1960ern niemanden gestört hat) auf die Straße. In den 1980er Jahren wird zwar noch Martin Luther Kings Todestag am 4. April 1968 gedacht, auf der Straße wird nicht demonstriert, doch wird die Bewerbung beider Mädchen an einem vornehmlich von Weißen besuchten College abgelehnt, ob wegen des Notendurchschnitts oder der Hautfarbe bleibt unklar. Preisgekrönt: Tayari Jones, fotografiert in Brooklyn, N.Y., 2010. © free license
„Ich möchte sagen, dass mein Vater kein Bigamist ist“, hält Jones in einem Interview fest. Wie sehr in Bigamie zumindest Ende des vergangenen Jahrhunderts in den USA verbreitet war, erzählt Dana gleich am Anfang des Romans: „In manchen Baptistenkirchen halten die Saaldiener Riechsalz bereit, falsch sich eine frische Witwe beim Trauergottesdienst mit der anderen trauernden Witwe und deren Kindern konfrontiert sieht.“

Tayari Jones untersucht in ihrem bewegenden Roman die Rolle der Heranwachsenden in den komplizierten Verhältnissen, aber auch die der Mütter. Cover der amerikanischen Taschenbuchausgabe von "Silver Sprarrow" / "Das zweitbeste Leben". © Oneworld Publications Dass in dieser Familienwelt, und nicht nur in dieser, die Männer eine untergeordnete Rolle spielen, entspricht der Realität. Das Verhalten von James Witherspoon, dem Bigamisten, wird kaum diskutiert. Jones charakterisiert ihre Personen durch deren Handeln und Denken, sie urteilt nicht, wahrt anteilnehmende Distanz. Ihr sind alle gleich lieb, und alle, auch die scheinbar glückliche Laverne mit ihrem öffentlich angetrauten, aber feigen und verlogenen Ehemann, Cover der deutschen Ausgabe von "Das zweitbeste Leben". © Arche Verlagmüssen sich mit tiefsitzenden Wunden abfinden. Es geht Jones nicht nur um die Schmerzen des Heranwachsens unter schwierigen Verhältnissen, sondern auch um die Rolle der Frau, Mutter wie Tochter, in der Gesellschaft, um die ihr zugedachte, und die andere, die sie wirklich erfüllen will. Ein empfehlenswerter Roman, durch Humor und Beobachtungsgabe aufgelockert, dessen Thematik weit über die aktuelle Geschichte hinausgeht. Im Kern erinnert die Geschichte der beiden Mädchen an den Bildungsroman des 19. Jahrhunderts, ist aber entfernt von jeglicher Belehrung. Tayari Jones wirft in ihrem ebenso fesselnden wie unterhaltsamen Roman Fragen auf, die nicht nur die BPoC in den USA betreffen, sondern alle Menschen in allen Zeiten.

Tayari Jones: „Das zweitbeste Leben“ / „Silver Sparrow“, aus dem amerikanischen Englisch von Britt Somann-Jung, Arche 2020. 352 S. € 22,70. E-Book: € 17,99.