Skip to main content

„Kontrapunkte“: Ballettpremiere in der Volksoper

Meist im Hintergrund: Die fünf Paare in van Manens Choeografie.

Ein dreiteiliger Abend, wie ihn das Publikum liebt. Die Pausen sind länger als die Tanzstücke: Drei Choreografien aus dem Tanzarchiv, entstanden zwischen 1975 und 1992 von den Choreografen Hans van Manen, Merce Cunningham und der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, in der Volksoper vorgestellt vom Wiener Staatsballett unter dem Titel „Kontrapunkte“. Drei große Namen, drei interessante Werke, dennoch ist es nicht gelungen, die Volksoper zu füllen, die Ränge sind nahezu leer geblieben. Eine Premiere am Wochenden, dem Samstag vor Pfingsten, anzusetzen, von dem im ORF vollmundig behauptet wird, „ein Großteil der Österreicher ist auf dem Weg nach Süden“, zeugt von wenig Wertschätzung ­– für die Tanzkunst und auch deren Freund:innen.

"Große Fuge"  von Anne Teresa De Keersmaeker für sieben Männer und eine Frau. Im Bild: Andrés Garcia Torres, Duccio Tariello, Fiona McGee.Als Jugendwerk kann De Keersmaekers Choreografie „Große Fuge“ zu Ludwig van Beethovens gleichnamiger Komposition bezeichnet werden. Entstanden ist das Tanzstück für Männer 1992 als erstes Werk für ihre Residenz an der Brüsseler Oper. Sieben Männer und eine Frau (herausragend Fiona McGee) in schwarzen Anzügen und weißen Hemden tanzen, springen, drehen und stürzen in unaufhörlicher Abfolge. Die Polyphonie, die Mehrstimmigkeit, ist die Basis dieser „Großen Fuge“, die Beethoven ursprünglich als Finale seines Streichquartetts Nr. 13 B-Dur op. 130 gedacht hatte. Doch die Musiker kamen mit dem schwierigen Stück nicht zurecht, Beethoven schrieb einen neuen, konventionelleren Schlusssatz und hat die Fuge als Opus 133 herausgegeben. Wenn den Tänzern zu heiß wird, werden sie die Sakkos ab und lassen die Hemden flattern. Im Bild: Trevor Hayden, Andrés Garcia Torres. Mit dem rasanten Tanz der Männer in "Große Fuge" hat De  Keersmaeker William Forsythes schwindendelerregenden Nervenkitzel derExaktheit („The Vertiginous Thrill of Exactitude“, 1996) vorweggenommen. Ganz kommen die Wiener Tänzer nicht damit zurecht, Keersmaekers Tanzsprache ist nicht zu sehen. Fiona McGee, als Kontrapunt zur Männergruppe, weniger Weibchen als gestrenge Lehrerin der mit flatternden Hemden fliegenden Buben, und Lourenço Ferreira schaffen es, die weiche Eleganz des klassischen Balletts durch Körperspannung und Exaktheit zu ersetzen und eine Ahnung von De Keersmaekers noch in Entwicklung befindliche klar strukturierte Tanzsprache zu vermitteln. Lourenço Ferreira hat in Lissabon studiert und ist seit der Spielzeit 2020/21 Halbsolist im Wiener Staatsballett.Bei einer Premiere wird gejubelt, so durften sich neben den beiden Genannten auch Eno Peçi, Andrey Kaydanovskiy, Trevor Hayden, Jackson Caroll, Arne Vandervelde und Duccio Tariello über den Jubel freuen, der jedoch vor allem der anwesenden Choreografin, Anne Teresa De Keersmaeker gegolten hat.
Nicht mehr verbeugen kann sich Merce Cunningham, der älteste in diesem kontrapunktischen Trio hat die Bühne nach 2009 für immer verlassen. Wie es sein Lebenspartner John Cage mit der Musik hielt, ging auch Cunningham mit dem Tanz um: „Jede Bewegung kann jeder anderen folgen und jede Bewegung ist erlaubt.“ Der Zufall regiert den Ablauf. In der Volksoper zeigt das Wiener Staatsballett sein kurzes Stück für sechs Paare „Duets“ zum ersten Mal. Bei der Uraufführung 1980 im City Center Theater, New York hat im dritten Duett auch Cunningham selbst mitgetanzt. Seine Partnerin war Catherine Kerr. Daniel Vizcayo mit Gloria Todeschini – ein Duett, choreografiert von Merce Cunningham Mit einem kurzen Ein- und Ausstieg von einem anderen Paar werden sechs Duette / Pas de deux gezeigt, die mit einem Tanz aller sechs Paare enden. Die Musik von John Cage basiert nicht auf Melodie, sondern auf purem Rhythmus. Cage hat die „Improvisation III“ eigens für Cunninghams Choreografie geschaffen und als Basis eine Aufnahmen der irischen Schlagzeuger Peadar & Mel Mercier (Vater und Sohn) mit irischen Bodhrán Trommeln verwendet. Für seine Partitur hat er ein elektronisch manipuliertes Schlagwerk-Spiel geschaffen. Duett von Katharina Miffek mit Giovanni Cusin.Beim Abspielen herrscht das Prinzip Zufall, die einzelnen Takes werden bei jeder Vorstellung in immer neuer Reihenfolge eingesetzt. Bei der Premiere in Wien haben Béla Fischer & Michael Fischer (ebenfalls ein Vater-Sohn-Team) die Live-Elektronik im Orchestergraben betreut. Auffallend in diesem steten Wechselspiel der Paare sind die bunten Kostüme der Paare von Mark Lancaster, Mitglied des Cunningham-Teams. Jede Tänzerin / jeder Tänzer trägt eine Farbe im Kostüm, die der Hose oder im Oberteil eines anderen Paares aufgegriffen wird. „Duets“ ist ein abwechslungsreiches Stück, in dem die sechs Paare, kommend und gehend, alle Formen eines Pas de deux zeigen, von schwungvoll bis verträumt mit Hebungen und Drehungen, Sprüngen und auch akrobatischen Einlagen. Merce Cunninham hätte seine Fraude gehabt: Sveva Gargiulo, gestützt von Kristián Pokorny. Cunningham nutzte für seine Choreografien gern das für ihn entwickelte Computerprogramm LifeForms, so tanzen auch die Paare nicht wie Paare, die eine innige oder auch streitbare Beziehung haben, sondern eher wie perfekt eingestellte Tanzfiguren, auch wenn die Männer die Frauen heben und die Frauen sich in deren Arme werfen. Manchmal passen sich die Tanzenden dem treibenden Rhythmus der Trommeln an, dann wieder trennt sich die Musik vom Tanz. Spannung und Abwechslung, auch durch die wechselnden Farben der Kostüme, machen diese Viertelstunde mit den sechs Paaren zu einem richtigen Vergnügen. Davide Dato, formidabler Solist in Hans van Manens "Four Schumann Pieces".
Das Beste kommt oft am Schluss und war diesmal Hans van Manens 1975 uraufgeführtes Solo für einen Tänzer und fünf Paare „Four Schumann Pieces“. Zu den vier Sätzen von Robert Schumanns Streichquartett A-Dur, op. 41, Nr. 3 zeigt Davide Dato, welch großartiger Tänzer, formal nahezu perfekt, ausdrucksstark und von herausragender Körperästhetik, er ist. Pas de deux für zwei Männer, selten, aber immer hinreißend. Davide Dato und Denys Cherevychko.
Van Manen, in Wien keineswegs ein Unbekannter, schon 1977 hat Ballettdirektor Gerhard Brunner Ballette des damals im Vergleich mit heute halb so alten Choreografen ins Repertoire genommen. Die „vier Schumann Stücke“ werden nicht gar so oft aufgeführt, ist doch das Stück für die Ballettcompagnie am Royal Opera House Covent Garden entstanden und der Solopart des Tänzer dem Principal Dancer Anthony Dowell auf den Leib geschrieben. Mehr als acht Jahre tanzte Dowell diese führ ihn geschaffene Choreografie und wurde besonders für die „Kombination von hervorragender Technik und Ausdruck“ gefeiert. Für Davide Dato gilt wohl das gleiche.
Ruhepause für den Solisten Davide Dato. Dahinter: Hyo-Jung Kang mit Denys Cherevychko.Die Choreografie zu den vier Quartettsätzen ist mit etwas Fantasie leicht zu erzählen. Anfangs steht der Tänzer allein auf der Bühne, kümmert sich nicht um die Paare, die hinter ihm vorbeiziehen, doch bald gesellt er sich zu den Tanzenden, gibt den Takt vor. Im zweiten Satz widmet er sich den Damen, lässt sie vortanzen, will sich einbringen, gibt jedoch bald auf und stürzt zu Boden, wo er bis zum Ende des Satzes liegen bleibt. Die Männer holen ihre Frauen ab, tragen sie hinaus, doch ein Paar und eine einzelne Frau bleiben zurück. Jetzt ist der Solist der Welt zurückgegeben, schäkert mit der einen Frau (Hyo-Jung Kang) während deren Partner (Denys Cherevychko) untätig im Hintergrund steht, schäkert mit der anderen (Liudmila Konovalova), der Partner (Alexey Popov) ist verschwunden. Bleiben will keine der Damen, er hält sie auch nicht und wendet sich dem übriggebliebenen Mann zu. Pas de deux zweier Männer gehören zum Schönsten, das auf der Tanzbühne zu sehen ist, schade, dass es so wenige davon gibt. Der letzte Satz ist reiner Tanz, klassisch nahezu, die Damen haben Spitzenschuhe an. Mit dem Solisten wirbeln die beiden Solopaare und die anderen drei Paare über die Bühne, bis der Solist an der Rampe den verdienten Applaus empfängt.Davide Dato hebt Hyo-Jung Kang. Aus dem Techtelmechtel wird nichts.
Tatsächlich eine bald 50 Jahre alte Choreografie? Der Schöpfer beantwortet die Frage in einem Interview von Verena Franke, Redakteurin der Wiener Zeitung: „Es gibt Ballette, die 50 bis 55 Jahre alt sind und noch immer überall auf der Welt gezeigt werden. Da bin sehr froh darüber. Ich denke, es liegt daran, dass ich gerne Märchen erzähle, die ziemlich abstrakt sind. Und sie handeln immer von menschlichen Beziehungen. Das bleibt aktuell.“ Freudig hat der Meisterchoreograf auch den tosenden Applause, den ihm das begeisterte Publikum gespendet hat, entgegengenommen. Der Ehrungen wird kein Ende sein, denn am 11. Juli wird Hans van Manen seinen 90. Geburtstag feiern.

„Kontrapunkte“: Choreografien von Anne Teresa De Keersmaeker, Merce Cunningham, Hans van Manen. Premiere 4. Juni 2002, Wiener Staatsballett in der Volksoper. Fotos: © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
„Große Fuge“: Musik Große Fuge op.133 von Ludwig van Beethoven, Choreografie Anne Teresa De Keersmaeker; Inszenierung Jean-Luc Ducourt, Bühne & Licht Jan Joris Lamers, Kostüme Rosas. Streichquartett Bettina Gradinger, Kota Morikawa, Peter Sagaischek, Roland Lindenthal.
„Duets“: Choreografie Merce Cunningham, Musik Improvisation III von John Cage; Kostüme und Licht Mark Lancester.
„Four Schumann Pieces“: Choreografie Hans van Manen, Musik Streichquartett A-Dur op.41 Nr. 3, Bühnenbild Hans van Manen, Kostüme Jean-Paul Vroom.
Tänzer Davide Dato. Tänzerinnen und Tänzer Hyo-Jung Kang / Denys Cherevychko, Liudmila Konovalova / Alexey Popov; Elena Bottaro / Igor Milos, Sonia Dvořák / Géraud Wielick, Aleksandra Liashenko / Andrey Teterin. Streichquartett wie bei „Große Fuge“.
Folgevorstellungen: 9., 14, 21., 24., 28. Juni 2022, Wiener Staatsballett in der Volksoper.