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Marlene Monteiro Freitas: „Pierrot Lunaire“

Stimmakrobatin Sofia Jernberg: "Pierrot Lunaire"

Es dröhnt die Ventilation, oder ist das schon Musik? Der Pianist im Klangforum Wien, dem tragenden Element der Aufführung von Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ bei den Wiener Festwochen, bringt seinen ersten Lazzo an, animiert eine Zuseherin, auf der dem Klavier entwendete Tastenleiste zu klimpern, um ihr voll Abscheu auf die Finger zu klopfen. Die ersten Lacher sind sicher in Marlene Monteiro Freitas Variation von Arnold Schönbergs Melodram „Pierrot lunaire“, atonal, garniert mit Sprechgesang, aber noch nicht mit der Zwölftonreihe komponiert. Was einst, 1912, eine skandalträchtige surreale Träumerei war, ist nun ein Heidenspaß.
Soll sein. Das Publikum lechzt nach Unterhaltung.

Auf dem Bühnenpodest in der Mitte agieren Musiker:innen aus dem Klangforum Wien. Coronakonform sitzt das Publikum im Viereck, das Bühnenpodest ist in der Mitte. Die Musiker:innen nehmen nach und nach Platz, scheinen eher als Kabaretist:innen eingesetzt denn als Kammerorchester. Sie haben, wie viele im Publikum, Freude an den Grimassen und Lazzi, die offenbar den Pierrot, Rivalen des Arlecchino, sympathischer, keineswegs boshafter Verwandter des Kasperls, ein melancholischer, weißer Clown, verkörpern sollen. Mit Textfetzen und Zitaten, vom Dirigenten Ingo Metzmacher und den Instrumentalist:innen gesprochen, stellt Regisseurin Monteiro Freitas den Mondanbeter Pierrot auch als Intellektuellen vor.
Die „Dreimal sieben Gedichte“ aus dem Zyklus „Pierrot lunaire. Rondels bergamasques“ des Symbolisten Albert Giraud in der Übertragung von Otto Erich Hartleben, hat Arnold Schönberg für Sprechstimme und Kammerensemble (Klavier, Flöte, Klarinette, Geige und Cello) vertont. Dass die Musker:innen ihre Instrumente denaturieren, als Werkzeuge, Spielzeug und Wurfgeschoss verwenden, ist ein Einfall der Regie. Das Ensemble scheint verdreht, hat Hosen und Hemden verkehrt herum an, der Bauch hängt ihnen hinten. Man darf sich allerhand dabei denken. Der Begriff „originell“ ist nicht inkludiert.Auch der Dirigent, Ingo Metzmacher, wird zum Schauspieler.

Die Gesangsakrobatin Sofia Jernberg betritt im Messgewand der Adventzeit samt rotem Birett mit Quaste und in Schlapfen auf. Die lässt sie allerdings vor der Treppe stehen und betritt in Socken die Bühne, wo sie sich auf einen futuristischen Hocker, wie die Stockerl der Musiker:innen, scheint der aus einem Labor oder schicken Ordination eines gut situierten Arztes zu stammen, niederlässt. Die überflüssigen Einlagen und Mätzchen der Musiker:innen, mit heraushängender Zunge, Gehampel und Herumgewusel samt Stockerl auf der Bühne sind schnell vergessen, wenn Jernberg die Augen rollt und ihre Stimme in allen Tonlagen und Phonstärken, sprechend, singend, gurrend, krächzend, brummend und grunzend, erhebt und wieder dämpft.
Phänomenal.

Pierrot Lunaire : Logo. © Jose Albergaria MMFMarlene Monteiro Freitas, Stammgast bei den Wiener Festwochen, trägt gerne dick auf, bunte Bilder, unterhaltsame Aktionen stehen ihr näher als Minimalismus und Reduktion. Von „Des Mondlichts bleiche Blüten“ ist nichts zu sehen, eher hält sich Monteiro Freitas an die Gedichtzeilen, die als Kritik an Kirche und Klerus gedeutet werden können, da verdrängt Provokation den Geschmack, doch weil die Zuschauer im Quadrat nicht immer alles, was geschieht, sehen können, verpufft mancher ohnehin verzichtbarer Einfall.

Was es für die Einzelnen bedeuten soll, dass es vier unterschiedliche Sichtweisen auf das Bühnengeschehen gibt, wie im Programmheft betont wird, kann ich mir nicht erklären. Ich habe gesehen, wie Bischöfin Jernberg ihre Pantoffel abstreift, andere sehen, wie die Streicherin Gunde Jäch-Micko ihren Bogen zerfleddert. Wer hat da Essenzielles versäumt?

Regisseurin Monteiro Freitas verlängert das Original durch allerlei Einfälle und Pausen, und auch Schönbergs Partitur wird zerhackt und mit Pop-Schnulzen und Tonexperimenten ergänzt. Die knapp 40 Minuten von Schönbergs Werk sind nicht genug für eine Festwochenaufführung, also wird zusammengeflickt und ad Libido ergänzt, bis das Ende nach 75 Minuten erreicht ist. Oft irren Mondstrahlen über die Bühne herum, suchen die Musik-Kasperl und -clowns, die aber das Licht meiden und sich nicht fangen lassen wollen. Die Band verabschiedet sich.
„Mondestrunken“ werde ich dabei nicht, das gelingt erst nach der heftig beklatschten Vorstellung. Der Mond, das „blanke Türkenschwert auf einem schwarzen Seidenkissen“ oder ganz unromantisch von Giraud /Hartleben auch als „goldene Omelette“ beschrieben, hängt Mitte Juni schon früh am klaren Nachthimmel. Man könnte sich, wie Pierrot, „das Gesicht mit einem phantastischen Mondstrahl bemalen“ – „Maquille étrangement son masque / D'un rayon de lune fantasque“. Im Gegensatz zu Girauds Rondeaus, hat Hartleben seine Version ungereimt und narrativ gehalten, was Schönbergs Intentionen eines „spezifisch musikalisch realisierten Formgedankens“ entsprochen hat und geradezu zum Sprechgesang verleitet. Girauds einfache Reime erleichtern das Verständnis, Sofia Jernberg singt Hartlebens Texte bestens artikuliert und vom Mikrofon verstärkt, dennoch ist die von Schönberg gewollte, doch ungewohnte Artikulation schwer verständlich. Im Programmheft ist lediglich ein Gedicht abgedruckt, sonderbarerweise ist neben der Übertragung Hartlebens das Gedicht „Der kranke Mond“ nicht in der Originalfassung, „Lune Malade“ abgedruckt, sondern auf Englisch. Zum Ausgleich erscheint am oberen Bühnenrand der Hinweis „record“, wenn der Klang der schönbergschen Komposition pur erklingt.

Die Musiker des Klangforums haben ihren Spaß gehabt, das Publikum hat seine Unterhaltung genossen, der mondsüchtige Pierrot war in Quarantäne. Ein Grund zur Aufregung, wie damals, 2012 in Berlin, war der Abend nicht.

Marlene Monteiro Freitas, Ingo Metzmacher, Sofia Jernberg, Klangforum Wien: „Pierrot Lunaire“, nach Arnold Schönberg.
Konzept, Regie: Marlene Monteiro Freitas; musikalische Leitung: Ingo Metzmacher. Herstellung Kostüm: Marisa Ribeiro; Raum, Licht: Yannick Fouassier, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber,
Musik: Klangforum Wien. Mit: Sofia Jernberg, Vera Fischer, Bernhard Zachhuber, Gunde Jäch-Micko, Andreas Lindenbaum, Florian Müller.
Wiener Festwochen, Museumsquartier, 18.6.2021.
Fotos: Nurith Wagner-Strauss.