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Alexander Gottfarb / Archipelago: „Encounters“

"Encounters": Tänzerinnen und Tänzer im Workspace.

Ein Wochenende lang, 50 Stunden, haben Tänzerinnen und Tänzer in einer leeren, vergammelten Fabrikhalle im Nirgendwo einen Encounter abgehalten, eine Zusammenkunft, eine Begegnung. „Encounters ist ein Versuch, zu arbeiten, ohne dabei materielle Güter oder konsumierbare Serviceleistungen zu produzieren“, sagt Alexander Gottfarb, der schon im Vorjahr die 365 Tage dauernde Performance „Negotiations“ choreografiert und organisiert hat. Damals live in einem leeren Geschäftslokal im 7. Bezirk, man kam und ging, blieb kurz oder eine ganze Weile, vergaß die Zeit und musste, weil es auch anderes zu tun gab, als stumm mit Tänzerinnen und Tänzern im kleinen Raum zu kommunizieren, wieder gehen, doch wusste man, dass man wiederkommt. Im Winter, im Sommer, im Herbst, bis es wieder Winter war.

Alexander Gottfarb: Konzept, Produktionsentwicklung und Tanz.Diesmal ist alles anders, nicht nur Tanz und Performance, man soll zu Hause bleiben, deshalb darf jede(r) an den „Encounters“ vom Lehnstuhl aus, im Bett oder am Esstisch teilnehmen. Live natürlich, Ulrich Reiterer führt die Kamera. Fokussiert auf eine einsame Tänzerin / einen Tänzer, spaziert durch die Halle, steigt die eisernen Treppen hinauf (da liegt jemand, Kopf nach unten, das tut mir weh), inspiziert die eisernen Traversen, schaut den rauen Boden an, bietet neue, überraschende Perspektiven an.
Ich bin gespannt.
Allein diese Halle zu finden, ein wenig zu adaptieren und auszustatten, ist bewundernswerte Arbeit. Ich mache mir Sorgen, wie diese riesigen Räume zu erwärmen sind. Am Abend reicht die selbsterzeugte Wärme nicht mehr aus, die T-Shirt verschwinden, dicke Pullover werden übergezogen.Treffen zu viert, die Begegnung kann durchaus auch physisch sein.
Die Choreografie lässt den Mitwirkenden (sieben Tänzerinnen und vier Tänzer) viel Freiheit. Die Regeln für diese „Zusammenkunft, um sich auszutauschen. Eine Versammlung, um Gemeinschaft zu praktizieren – und Bewegung“ sind einfach: Wiederholung und Transformation. Jede Bewegung, ob die Arme gehoben werden, die Beine sich quer durch die Halle tasten, der Kopf nickt oder der Körper sich an eine Traverse lehnt, am Boden liegt oder sich kopfüber auf der Treppe erholt, wird wiederholt, und es ist ihr erlaubt, sich zu verändern, „um sie als Input für Neues zu nutzen“, sagt Gottfarb.
Anfangs bewegen sich die Teilnehmerinnen am Workshop – die Arbeit ist keine Show für ein konsumierendes Publikum, sondern Arbeitstreffen, an dem die zuschauenden Gäste auch teilnehmen dürfen, sollen. – eher vereinzelt, bald sehe ich zwei in der Halle, nahe oder ganz klein in der Ferne, die einander begegnen, gemeinsame Bewegungen machen. Es werden immer mehr, die Halle füllt sich, bis gegen Ende der 50 Stunden alle gemeinsam am Encounter teilnehmen und sich nicht scheuen, ihre Müdigkeit zu zeigen. Haben die Teilnehmer*innen mit „Negotiations“ den Wechsel der Jahreszeiten in ihre Bewegungen einfließen lassen, so ist die Transformationskette diesmal komprimiert, Tag und Nacht. Ob die das zurzeit ohnehin recht dürftige Tageslicht hereinlässt, sehe ich nicht, doch als Live-Zuschauerin sehe ich sehr wohl den Unterschied, gleite von des Tages Anforderungen ins magische Dunkel der Nacht.
Niemand zu sehen auf weiter Flur. Doch Raúl Maia ist nur scheinbar allein.Der Aufforderung, doch mitzumachen, bedarf es gar nicht, Rhythmus und Bewegungen übertragen sich von selbst, ich kann gar nicht anders, als mich auch zu bewegen, nehme die Anregungen auf, hebe die Arme, kreise das Handgelenkt, Wiederholung und Veränderung. Der kurze Audioguide gibt eine Anleitung, falls der Beginn schwerfällt. Außerdem haben sich Teilnehmer*innen über Kommentare gefreut.
Natürlich sind nicht nur diese 50 Stunden in der leeren Halle Arbeit „ohne dabei materielle Güter zu produzieren“, das ist ja wohl jeder Tanz, jede Performance, vielleicht sogar jede Begegnung auch im Alltag, doch was an nicht materiellen Gütern produziert wird, zwischen den Teilnehmer*innen untereinander und zwischen ihnen und den Zuschauer*innen, ist vermutlich mehr wert als die Beute einer Shoppingtour.

Wir brauchen die Begegnung mit den Anderen, um uns weiterzuentwickeln, um zu wachsen und wir selbst zu werden. Doch für eine Begegnung braucht es ebenso sehr Nähe wie Abgrenzung. Eine Begegnung ist auch ein Aufeinandertreffen von Differenzen. (Alexander Gottfarb) Die Halle mit Tänzerinnen.

Eine riesige Halle mit mehreren Etagen, Nischen und Ecken zu überschauen ist als gewöhnliche Performance mit Publikum kaum möglich. Im Gegensatz zu Aufzeichnungen von Bühnengeschehen ist im Fall von „Encounters“ die Begleitung durch Ulrich Reiterer mit der Live-Kamera ideal. Natürlich wählt er die Perspektiven aus, doch er wiederholt und ändert, wie es die Choreografie verlangt. Die Perspektiven werden ebenso geändert wie die Einstellungen, en gros und en detail, also Totale, Panorama und Gesichter, Arme, Füße. Wir sehen die Tänzerinnen konzentriert und entspannt lachend, liegend, sitzend, laufend und auch in gemeinsamem Bewegungsablauf. Niemals wäre ich diesen Ort, der vermutlich am Stadtrand liegt, gereist und das womöglich mehrmals in 50 Stunden. Für mich und sicher für viele andere Zuschauer*innen war diese Form genau richtig. Wir waren zwar entfernt, aber doch ganz nah.

„Encounters“. Konzept, Produktionsentwicklung: Alexander Gottfarb
Choreografie, Tanz: Esther Balfe, Alex Deutinger, Soraya Emery, Alexander Gottfarb, Katharina Illnar, Nanina Kotlowsky, Martyna Lorenc, Raúl Maia, Anna Maria Nowak, Patric Redl, Charlotta Ruth.
Dramaturgie: Guy Cools; Musik: Sophie Augot, Guenther Berger, Alexander Gottfarb, Raúl Maia, Stephan Sperlich; Komposition: Guenther Berger, Stephan Sperlich: Kostüme: Karin Pauer; Video: Ulrich Reiterer: Produktion: mollusca productions. Eine Produktion von Archipelago in Koproduktion mit Tanzquartier Wien. Die Fotos sind aus dem Facebook kopiert: © Kati Göttfried
Live-Übertragung von 4.12., 18 Uhr bis 6.12. 2020, 20 Uhr. 50 Stunden Tanz / Performance in einer leeren Fabrik.
Der Livestream war auf tqw.at zu sehen.