Skip to main content

Andrea Camilleri: „Jagd nach einem Schatten“

Andrea Camilleri. © Nagel & Kimche

Einer der produktivsten und erfolgreichsten Autoren Italiens hat auch mit 93 Jahren nichts von seiner Fantasie und Erzählfreude verloren. Mit seinem neuen Roman, „Jagd nach einem Schatten“, vermischt Andrea Camilleri historische Tastsachen mit seiner Vorstellungskraft, erzählt vom undurchsichtigen Leben des Samuel Ben Nissim Abul Farag, und erfindet, was nicht bewiesen werden kann. Er verfolgt einen Schatten.

Camilleri entführt seine Leserinnen ins 15. Jahrhundert, als Samuel Ben Nissim Abul Farag 1465 im sizilianischen Caltabellotta als einziger Sohn eines Rabbi zur Welt kam. Samuel wird von seinem Vater zu Höherem erzogen, kann sich als Teenager in vielen Sprachen ausdrücken, hat auch die Kabbalistik studiert. Mit 15 entschließt er sich, nicht mehr als verachteter, womöglich verfolgter Jude durchs Leben zu gehen und konvertiert zum christlichen Glauben. Caltabellotta in Sizilien, Geburtsstadt des Helden  © Clemens Franz / GNUEr sucht sich einen wohlhabenden, einflussreichen Paten und ist fortan Guglielmo Raimondo Moncada. Von den Eltern wird er verflucht und aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen. Camilleri schildert den Konvertiten als gefühllosen, nach Reichtum und Macht strebenden Emporkömmling. Sympathisch ist er nicht, doch wie er sich immer wieder aus diversen Schwierigkeiten herauswindet, ist amüsant und spannend. 

Mit seinen Hasstiraden gegen das Judentum wird er berühmt und der Papst holt ihn nach Rom, wo höhere Würden auf ihn warten. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Für den Gelehrten Pico della Mirandola hat Mitridate die Kabbala übersetzt. Der Maler des Porträts in den Uffizien ist nicht bekannt. © lizenzfreiDie Historie spricht von einem „fatalen Fehler“, der ihn zwingt, wieder einmal unterzutauchen. Als er wieder auftaucht, ist er Flavio Mitridate, Lehrer und Übersetzer für orientalische Sprachen und die Weisheit der Kabbala. Als solcher lernt er den bekannten italienischen Philosophen Pico della Mirandola (1463–1494) kennen und lieben. Auf welche Weise er seinen Schüler und Gönner geliebt hat, ist nicht dokumentiert, dass Samuel / Guglielmo / Flavio homosexuell war und seiner Leidenschaft ausgiebig frönte, ist jedoch erwiesen.
Auch dass er dauernd über seine Verhältnisse gelebt hat und Schulden hatte. Auch bei einem jüdischen Geldverleiher. Dieser will nicht länger auf die Rückzahlung der hohen Summe warten und besucht Flavio in seinem Haus. Eine Trouvaille: Übersetzung aus dem Arabischen von Flavio Mitridate für Federico di Montefeltro, Fürst von Urbino. © lizenzfreiDas kostet ihn das Leben, und der knapp 35jährige, vom Wohlleben gezeichnete Gelehrte muss schon wieder untertauchen. Von da an schweigt die Chronik, doch keineswegs Camilleri. Er begnügt sich nicht, als unsichtbarerer Erzähler einer fiktionalen Biografie aufzutreten, sondern spricht die Lesegemeine direkt an, berichtet, dass er durch seinen Kollegen, den hochgeehrten sizilianischen Autor gesellschaftskritischer Kriminalroman, Leonardo Sciascia († 1989), auf den Renaissancegelehrten aufmerksam geworden ist, und dass er über einen Mann, von dem er nur einen Schatten zu fassen bekommt, keinen historischen Roman schreiben könne und dies auch nicht seine Absicht sei.

So darf man, wie immer, Camilleri aus purem Vergnügen lesen und sich an seinen sanft erteilten Seitenhieben, die zwar den Sitten und Unsitten der Renaissancegesellschaft gelten, Pedro Gerruguete: Federico di Montefeltro mit seinem Sohn. Der Fürst von Urbino hat Mitridate als Übersetzer beschäftigt. © Galleria nazianole delle Marche / lizenzfrei.  aber durchaus auch in heutige Stammbücher geschrieben werden können und sollten, erfreuen. Die Neugierde, die Camilleri angetrieben hat, nicht nur das Leben Mitridates, sondern auch die Beweggründe für sein Handeln zu erforschen, teilt sich den Leserinnen schnell mit. Camilleri erzählt so lebendig, dass ich für 200 Seiten direkt in der italienischen Renaissance lebe. Oder in einer Zeit und Gesellschaft, wie sie sich der Autor vorgestellt und ausgedacht hat. Denn, weil sich der katholische Jude / jüdische Katholik, der möglicherweise gegen Ende seines Lesens wieder zum Judentum zurückgekehrt ist, nicht fassen ließ, hat ihn Camilleri neu erfunden:

Buchcover @ Nagel & Kimche Verlag"Mir blieb also kein anderes Mittel der Verfolgung und Suche übrig als mein Beruf. Was bedeutete, dem Geheimnis einer so komplexen und ungreifbaren Persönlichkeit mit dem Instrumentarium der Erzählung zu begegnen. Als hätte er nicht wirklich existiert, sondern wäre eine ganz und gar von mir hervorgebrachte Erfindung. Und kommt Erfindung, lateinisch inventio, nicht vom Verb invenire, was wiederentdecken, wiederfinden bedeutet?“

Dass der italienische Humanist Flavio Mitridate tatsächlich existiert hat, kann im Flavio Mitridate nachgelesen werden. Eher magere Auskunft gibt es auf Englisch, doch de.wikipedia hat von dem bunten, aber nicht fassbaren Schatten keine Ahnung.

Andrea Camilleri: „Jagd nach einem Schatten“, "Inseguendo un'ombra", aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Nagel & Kimche, 2018. 208 S. € 20,60. E-Book: € 15,99