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Kent Haruf: „Unsere Seelen bei Nacht“, Roman

Kent Haruf, 1943–2014, © Philippe-Matsas Opale Leemage

Der letzte Roman des amerikanischen Autors Kent Haruf ist ein Glücksfall für die Leserin. Der ein bisschen mystische Titel – „Unsere Seelen bei Nacht / Our Souls at Night“ – lässt ahnen, dass ein ganz besonderer Roman zu lesen sein wird. Das Licht auf dem Nachtkasterl ist gedämpft, der Straßenlärm schweigt, Addie und Louis liegen Hand in Hand nebeneinander im Bett, plaudern ein wenig und schlafen dann ein. Noch vor dem Frühstück ist Louis wieder bei sich zu Hause. Bis Addie meint, er soll seinen Pyjama doch bei ihr lassen und dann frühstückt er auch mit ihr.

Von Anfang an: Holt ist eine Kleinstadt in Colorado, die es eigentlich nicht gibt. Kent Haruf hat sie erfunden und lässt alle seine Figuren dort aufwachsen und leben. Was passiert schon Großes in diesem verschlafenen, eher  rückständigen Nest? Eben nichts und davon erzählt Haruf lakonisch und in einem nahezu durchsichtigen Stil. In Holt sind die Menschen weder himmelhochjauchzend noch zu Tode betrübt, alles liegt in der Mitte, selbst die Liebe kommt nicht mit Pauken und Trompeten und von Schmetterlingen in welchen Innereien auch immer, ist nicht die Rede. Ganz leise macht dieses Gefühl des Vertrauens und der Vertrautheit zwei Menschen glücklich. Die Klatschmäuler in Holt allerdings wollen Louis und Addie dieses kleine Glück nicht gönnen. Annie schert sich nicht darum, Louis würde die Nächte lieber geheim halten.

KInoposter © Netflix

Mutig und unkonventionell. Addie ist die Mutigere, sie hat die Initiative ergriffen und eines Tages beim Nachbarn geläutet und ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag gemacht. „Wir sind beide schon lange verwitwet und einsam, doch nachts ist die Einsamkeit am schlimmsten. Willst du nicht hie und da bei mir übernachten und wir erzählen uns etwas.“ Louis ist ziemlich betropetzt, da setzt Addie rasch hinzu, dass es nicht um Sex gehe, lediglich um Nähe und Geborgenheit. Louis erbittet Bedenkzeit, doch schon am nächsten Abend steht er mit dem Pyjama im Plastiksackerl vor Addies Hintertür. Das passt ihr nicht, Louis soll zur Vordertür hereinkommen, sie hätten doch nichts zu verbergen. Bald kommt Louis jeden Abend und obwohl sie einander als Nachbarn schon lange kennen, gibt es eine Menge zu erzählen. Die Vergangenheit wird wieder lebendig und die Nähe wärmt, während die Stadt schweigt und die Lampe neben dem Bett ihr mildes Licht verbreitet. Dass sich die halbe Stadt das Maul zerreißt über beider sichtbares Glück, stört bald auch Louis nicht mehr, doch dass die Kinder mit dem Verhältnis, das ganz anders ist, als sie denken, nicht einverstanden sind, macht ihnen Kummer. Der Film zum Buch ist  bereits abgedreht: Jane Fonda und Robert Redford sind das unkonventionelle Paar. © Netflix

Scheinbar nichts Aufregendes, was Kent Haruf zu erzählen hat. In einfachen Sätzen berichtet er was geschieht – Spaziergänge, Picknick mit Übernachtung im Zelt, Ringelspielfahren mit Addies Enkel, einkaufen, die uralte Nachbarin besuchen. Alltag in der Kleinstadt. Kein Pathos, keine Sentimentalität, kein überflüssiges Wort, hingegen auf Zehenspitzen tanzender Humor, genaue Beobachtungen. In ihrem stillen Glück rühren die beiden alten Menschen ans Herz. Haruf erzählt voll Güte und Liebe. Vielleicht ist auch die Tatsache, dass er den nahen Tod schon spürte, ein Teil der Faszination dieses schlichten, hell strahlenden Romans.

Buchcover  © Diogenes Verlag Der Autor ist kurz nach Fertigstellung des Manuskripts mit 71 Jahren gestorben. Die amerikanische literarische Welt war erschüttert, doch in Europa ist der Sohn eines methodistischen Pfarrers nicht wirklich bekannt gewesen. Nur der erste seiner sechs Romane ist übersetzt: „Plainsong“ ist 1999 erschienen und von Rudolf Hermstein mit dem Titel „Flüchtiges Glück“ übersetzt (Goldmann, 2001). Jetzt ist auch der siebente, letzte Roman übersetzt. Auch in „Plainsong“ geht es bereits um eine mutige Frau, die der Kleinstadt-Tratsch kalt lässt und die Männer auf Trab bringt. In diesem Erstling stellt Haruf die entscheidende Frage, ob wir nicht alle ein flüchtiges Glück erleben, es nur oft nicht bemerken. Manche Bewohnerinnen von Holt, der amerikanischen Kleinstadt schlechthin, können es genießen, dieses stille Glück und vergeuden es nicht mit den Versuchen, es festzuhalten.

Kent Haruf: „Unsere Seelen bei Nach“ übersetzt von Pociao, Diogenes 2017. 208 S. € 20,60.