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Irene Vallejo: „Papyrus“, die Welt in Büchern

Irene Vallejo: Überraschungserfolg im Plauderton. © gazeta.unam.mx

700 Seiten pures Lesevergnügen plus Wissensbereicherung. Doch der sorgfältig editierte Band „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“ ist kein trockenes Sachbuch, das ungelesen im Regal steht. Die spanische Autorin Irene Vallejo ist inspiriert von ihrer Begeisterung für das aufgezeichnete Wort und erzählt die Geschichte des Buches als spannendes Abenteuer von der ersten Schilfernte am Nil über die Erfindung des Alphabets bis heute.

Papyrus aus dem 3. Jh. n.Chr.: Brief des regionalen Verwalters Alypios an den Gutsverwalter Heroneinos mit Anweisungen zu Maßnahmen im Weinbau in griechischer Kursivschrift.  Quelle: Biblioteca Medicea Laurenziana. ©  sailko / wikipediaDer Erfolg von Vallejos Hommage an das geschriebene Wort kam überraschend: Mehr als 26 Auflagen mit 150.000 verkauften Exemplaren hat das Original, „El infinito en un junco / Die Unendlichkeit in einem Schilfrohr“, seit 2019 erreicht. Die Einsamkeit in den Zeiten der Pandemie ist am Erfolg dieses brillanten Werkes nicht unbeteiligt, doch Vallejos Begeisterung springt über auf die Leserin, ihr Erzältalent sorgt für bereicherndes Lesevergnügen.
Mit der Vision Alexander des Großen (356–323 v. Chr.), die vollkommene Bibliothek zu errichten, in der alle Werke aller Autoren (Autorinnen) seit Anbeginn der Zeit gesammelt würden, beginnt Vallejo ihre Geschichte der Welt in Büchern. Alexander stirbt früh, nicht auf dem Schlachtfeld, wie man meinen könnte, sondern im Bett an einer fiebrigen Infektion. Die Bibliothek in Alexandria wird durch Feuer zerstört. Alexanders Nachfolger, Ptolemaios I., Herrscher von Ägypten, will Alexanders Traum wahr werden lassen und sendet berittene Männer aus, um sämtliche Bücher im Reich einzusammeln, zu rauben, zu stehlen, zu kaufen oder zu konfiszieren. So erfahren die Leserinnen gleich zu Beginn der Erzählung, dass auch in der Welt der Bücher nicht alles edel, hilfreich und gut ist. Die Neue Bibliothek von Alexandria ist im Herbst 2002 eröffnet worden. © Shivani Singh04  / wikipedia Ob die bekritzelte Papyrusrolle oder bedrucktes, holzfreies Papier zwischen festen Deckeln, das Feuer bleibt der größte (materielle) Feind des Buches. Bücherverbrennungen haben eine lange Geschichte, wie Vallejo erzählt, nicht immer sind die Flammen durch ein Versehen oder ein Unglück so gefräßig gewesen. Bevor die Wörter aufgezeichnet wurden, blieben sie durch die Kunst des Erzählens lebendig, jedoch nicht unsterblich. Wer je als Kind „Stille Post“ gespielt hat, weiß, wie schnell sich eine Geschichte verändert, ja ins Gegenteil verkehren kann. Bleibend war nur, was in Stein gemeißelt wurde. Eine umständliche und kräfteraubende Arbeit, gerade ausreichend für ein paar Erinnerungsworte auf einem Grabstein. Zeichen und Symbole in den weichen Ton zu ritzen, geht wesentlich schneller und effektiver, doch der Nachteil ist klirrend: Ton zerbricht leichter als ein rohes Ei. Altaägyptischer Papyrus © wikipedia / gemeinfreiWieder nichts mit der Verbreitung der Kunst des Lesens. Überdies musste ja auch das Alphabet erfunden werden, mit den Bilderleisten allein lässt sich das Denken nicht in die Unendlichkeit ausdehnen.
Wie die Eisenbahn, das Fernsehen, der Computer ist auch das Aufschreiben von Gedanken, um sie zu verbreiten und für die Ewigkeit zu bewahren, anfangs verdammt worden ist. Ausgerechnet der griechische Philosoph Sokrates hat vor mehr als 2000 Jahren gemeint, mit dem Festhalten von Wissen durch die Schrift gehe den Menschen das Gedächtnis verloren. Doch das ist nicht passiert, und Vallejo berichtet auch, dass die mündliche Überlieferung, das Geschichtenerzählen, nicht ausgestorben ist. Der Erfolg der Hörbücher ist ein Beweis, dass beides nebeneinander existieren kann, Lesen und Zuhören.
Irene Vallejo erzählt nicht nur die Geschichte und Geschichten der Bücher, sondern berichtet auch Privates, aus der Kindheit und über ihre Beziehung zu Büchern und zum Schreiben. Auch den Bezug zur aktuellen Literatur stellt sie immer wieder her, was zur Erkenntnis führt, dass Alexander der Große oder der chinesische Kaiser Shihuangdi gar nicht so weit von uns entfernt sind. Der erste Kaiser von China, Shihuangdi, ordnete an, alle Bücher zu verbrennen und Gelehrte bei lebendigem Leib zu begraben. Die chinesische Malerei, die von diesen Gesetzen erzählt, ist im 18. Jh. entstanden und in der Bibliothèque nationale de France in Paris aufbewahrt. © gemeinfrei18. Jahrhundert Alexander träumte von einer Weltbibliothek, wie wir sie im Prinzip durch das Internet schon haben, alles Wissen, alle Träume, Fantasien und Fakten können in dieser virtuellen Bibliothek eingespeichert und von jeder / jedem abgerufen werden. Shihuangdi hat 213 v. Chr. angeordnet, sämtliche Bücher zu verbrennen. Nur Weissagungen, medizinisches und landwirtschaftliches Wissen sollten erhalten bleiben. Die Geschichte Chinas sollte erst mit der Herrschaft des Kaisers beginnen, davor konnte es nichts geben. Auch wenn dieses Gebot mit aller Härte durchgesetzt worden ist, hat es eine Chance gegeben, das Wort zu retten. Der Autor Ray Bradbury (1920-2012) hat sie in seinem Roman „Fahrenheit 451“ beschrieben. Die Verfilmung durch François Truffaut mit Oskar Werner in der Hauptrolle hat die packende Erzählung über den Wert des freien Denkens auch bei jenen bekannt gemacht, die den Wert des geschriebenen Wortes und des Lesens noch nicht erkannt haben. Vallejo gelingt es immer wieder, die Brücke vom Vorvorgestern zum Heute zu schlagen. Totenmaske von Encheduanna (Em-hedu-anna). Die Königstochter aus Ur lebte im 23. Jh. v.Chr. Sie ist die erste Person, die ihren Namen und ihre Werke gesetzt hat. Lange vor Homer hat En.hedu-anna Gedichte geschrieben. Aufbewahrt wird das Kleinod im Irak. © IraqInHistory / wikipedia Etwa in der Mitte der Unterhaltung über das Aufschreiben, Erzählen, Lesen und Zuhören, gelingt es der Autorin, Belesene zu überraschen: „Der erste Schriftsteller der Welt, der einen Text mit eigenem Namen unterschreibt, ist eine Frau. 1500 Jahre vor Homer schrieb die Dichterin und Priesterin En-hedu-anna eine Reihe von Hymnen, deren Echos noch in den biblischen Psalmen nachhallen und sie stolz unterzeichnete.“
Es macht überhaupt nichts, wenn dieses großartige und zugleich unterhaltsame Werk in der Mitte aufgeschlagen wird. Die Erwähnung von En-hedu-anna ist auf Seite 267 zu finden. Vallejo hält sich ohnehin an keine Chronologie, reist in Gedanken in ihr Kinderzimmer und wieder zurück zur sagenumwobenen abgebrannten Bibliothek von Alexandria. Echter Papyrus am Fluss Ciane im  Naturschutzgebiet von Siracusa / Sizilien. © pjt56  / wikiepedia  An die 200.000 verkaufte Exemplare, Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen sprechen für sich. Dass dieses Buch, Erstauflage des spanischen Originals 2019, gerade jetzt, in Zeiten der Isolation und Abgeschiedenheit so erfolgreich ist, mag nicht überraschen. Für Viele bekommt das Buch den Stellenwert, den es für andere schon immer gehabt hat: als Trösterin, Lehrerin, Helferin und Unterhalterin. Ein Buch kann froh machen und klüger, kann Fenster in den Garten Eden öffnen und uns den Weg aus dem Labyrinth zeigen.Irene Vallejo: "Papyrus", Schutzumschlag. © Diogenes Verlag Kurz, das festgehaltene Wort, ob analog oder digital vermittelt, das Buch eben, in all seinen Ausführungen, ist unverzichtbar. Mit Liebe und Fachwissen, in sprudelnder Erzähllaune, ruft Irene Vallejo diese Tatsache in Erinnerung.
„Papyrus“ ist neben allem Lob für den Inhalt auch formal ein schönes Buch und editorisch sorgfältig betreut. Der Anhang bietet: ein ausführliches Quellenverzeichnis, eine Liste weiterführender Literatur und ein Personenregister, ein brauchbarer Ausgangspunkt für Studierende für die Seminararbeit: „Wie unterhaltsam darf Wissenschaft sein?“

Irene Vallejo: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“ / „El infinito en un junco. La Invención de los libros en el mundo antiguo“, aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby, Diogenes 2022. 752 Seiten, € 28,80.