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Mikael Niemi: „Wie man einen Bären kocht“, Roman

Mikael Niemi. © Ulf B. Jonsson

In ein fernes Land zu reisen, unbekannte Menschen kennen zu lernen und zugleich vorwärts in die Vergangenheit zu schauen, das ist, realistisch gesehen, zur Zeit nicht wirklich möglich. Doch der schwedische Autor Mikael Niemi könnte mit seinem neuen Roman „Koka björn“ helfen, die täglichen Sorgen und Ängste, die das sattsam bekannte Virus vielen bereitet, etwas zu dämpfen. „Koka björn“ heißt der Roman im schwedischen Original. "Wie man einen Bären kocht", heißt der 500 Seiten starke, historisierende Roman über Lappland im 19. Jahrhundert. Das insinuiert eine Komödie, doch Niemi, selbst am Ort des Geschehens im Kulturraum der Samen aufgewachsen und wohnhaft, macht keine Scherze, sondern sich Gedanken. Der Bär ist nicht der Böse in der von historischen Tatsachen inspirierten Chronik. Hauptperson ist der verwilderte Same Jussi, der von einem evangelikalen Pastor erzogen wird.

Wenn Probst Laestadius Jussi, verdreckt und verhungert, im Wald findet, ähnelt er mehr einem geprügelten Hund als einem Menschen. Der Probst, Lars Levi Laestadius, gezeichnet 1839. © lizenzfreiDer Bub ist aus dem Elternhaus geflohen, hat unter Schmerzen seine Schwester, die nicht gewagt hat, die alkoholsüchtige und gewalttätige Mutter zu verlassen, zurückgelassen, um endlich leben zu lernen. Jussi ist eine von Autor Niemi erfundene Figur, Probst Laestadius hingegen ist in die samische Chronik eingegangen. Lars Levi Laestadius (1800–1861) hat die letzten Jahre seines Lebens im nordschwedischen Ort Kengis in der Gemeinde Pajala mitten im Samenland verbracht, dort, wo auch Niemi lebt und die Geschichte von Jussi spielt. Doch weil Niemi sich in seinem Roman auf historisch Verbürgtes lediglich stützt, sich diesem aber nicht verpflichtet fühlt, formt der auch den Charakter der umstrittenen Figur des Begründers der pietistischen Erweckungsbewegung Laestadianismus nach seinen Bedürfnissen. Das ehemalige Pfarrhaus von Leastadius in Pajala ist heute ein Museum. © public domainDer historische Laestadius war ein komplexer Charakter, neben seiner Glaubenslehre, die das Volk auf den rechten Weg führen sollte, betätigte er sich als Botaniker und katalogisierte neue Pflanzenarten, die nach ihm benannt sind. So spielt auch die Natur eine wesentliche Rolle in der Lebensgeschichte von Jussi. Laestadius Beobachtungsgabe benützt Niemi, um ihn zum kriminalistischen Spürhund werden zu lassen, der sämtliche Beweise sammelt und den Frauenmörder schließlich identifizieren kann. Allerdings nützt dem fiktiven Kriminalisten all sein Wissen nichts, der stumpfe, selbst gewalttätige, Landjäger hat beschlossen, dass ein Bär der Mörder ist. Basta! Sein Fell ist bereits verteilt, als eine weitere junge Frau im Wald tot aufgefunden wird. Ausgeschlossen, dass einer aus dem Dorf der Vergewaltiger und Mörder ist. Cover der Originalausgabe: "Koka björn". © Piratförlaget / Pirat VerlagEs muss ein Fremder sein. Schnell ist der Sündenbock gefunden: Der „Lappenbengel“ muss es sein. Weder Laestadius akribisch gesammelte Beweise, noch der Herrgott können Jussi helfen. Er ist der Andere, er ist „das Schwein“, er muss es sein, weil der Landjäger und die besser Situierten, Kaufleute und Wirte, es so wollen und die Bauern auch nichts dagegen haben. Schließlich treffen sie damit auch den ungeliebten Prediger L., der für die Samen eigene Messen abhält, damit die „Erweckten“ sich lautstark ihrer Ekstase hingeben können.

Immer wieder behauptet Jussi in seiner Lebensgeschichte: „Er hat mich zum Menschen gemacht.“ Der Probst hat den jungen Jussi quasi adoptiert, hat ihn zu seinem Begleiter ernannt und bei den Mahlzeiten an den Familientisch gesetzt. Sami Familie um 1900. © publicdomain / wikipediaDie Nächte verbringt Jussi dennoch lieber draußen vor der Tür oder in der Scheune. Wie er es gewohnt ist von klein auf, will er auf dem Boden schlafen, selbst wenn er friert. Der Probst lehrt ihn die Liebe zur Natur, das Lesen und das Schreiben und ermuntert ihn, seine Gedanken niederzuschreiben. Deshalb erzählt auch Jussi selbst den Großteil seiner Geschichte, bis er aufgrund des Fehlurteils verstummt, und das Ende vom Probst berichtet wird. Gerne hätte er Jussi zum Prediger ausgebildet, doch dazu kommt es nicht. Immerhin hat Jussi auch Schwedisch gelernt und geübt, sich auch mündlich auszudrücken. Da er anfangs lediglich Samisch sprechen und verstehen konnte, Schamanentrommel. © Manfred Werner / Tsui CC BY SA/ creative.commons.orgwar Jussi wortkarg und scheu. Doch der Probst hat Jussi mit Namen und Geburtsdatum ins Kirchenbuch eingetragen und diesem dadurch zu seiner Menschwerdung verholfen. Jussi hat die Angst, dass er spurlos aus der Welt verschwinden könnte, einfach ausradiert würde und es keinerlei Erinnerung an ihn gäbe. Deshalb beginnt er auch von sich zu erzählen, anfangs in unsichtbarer Schrift, indem er im Gefängnis mit einem Griffel zwischen die Zeilen der Bibel schreibt, die ihm der Probst geliehen hat. Und genau deshalb, damit ihre Tradition und Kultur und sie selbst nicht verschwinden, schreibt Niemi auch über die Samen, die in Schweden, Finnland, Norwegen und auch Russland leben. Recht und schlecht, wie viele der indigenen Völker auf der ganzen Welt. Inspiriert zu Jussis Chronik ist Niemi durch ein um 1890 in Nordnorwegen in Sami veröffentlichtes Dokument: „Mu eallin“, was wohl „Mein Leben“ heißen wird. Die Kirchenbücher, in die Laestadius Geburten, Hochzeiten und Todesfälle eingetragen hat, sind beim Brand der Kirche von Pajala verloren gegangen.
Francois-Auguste Biard: "Pastor Laestadius lehrt die Sami", 1840. Der französische Künstler lernte Laestadius 1839 während der Expedition nach Spitzbergen und Lappland kennen. © Nordnorsk kunstmuseum Jussi, der bis ihn der Probst gefunden hat, keinerlei Erziehung oder Unterricht bekommen hat, spricht nur Samisch, was ihn verdächtig macht. Die Samen waren damals nicht sonderlich beliebt bei den Schweden, sie waren anders, lebten als Rentierzüchter nomadisch und die Anhänger von Laestadius tranken keinen Alkohol, das ärgerte nicht nur die Wirte. „Schamanenbengel, Lappenbengel“ riefen die Bauernsöhne hinter dem verschwiegenen, schüchternen Buben her. Nicht nur deshalb zweifelte Jussi manchmal selbst an seinem Menschsein.

Schon einmal hat Niemi mit einem Roman über die samische Kultur Furore gemacht: „Populärmusik från Vittula“, sein erster Roman, ist in  Schweden 2000 erschienen und vier Jahre später mit ebensolchem Erfolg verfilmt worden. Mikael Niemi: Wie man einen Bären kocht", Schutzumschlag. © btbErzählt wird die Geschichte von den beiden Freunden Matti und Niila, die in den 1970er Jahren in Pajala aufwachsen. Niila kommt aus einer Familie von Laestadianern. Auch in seinem neuen Roman über die Samen hält sich Niemi an das alte Motto von „prodesse et delectare“ / „belehren und unterhalten“, erwähnt historische Details, wie die Kautokeino-Rebellion von 1852 oder das Treffen Laestadius von 1844 mit Milla Clementsdoter (1812–1892) und bietet zugleich eine fantastische Geschichte, poetisch und hypnotisch.

Mikael Niemi: „Wie man einen Bären kocht“, „Koka Björn“, aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt, btb, 2020. 512 S. € 20,60.