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„Gaudiopolis“: Tanja Witzmann im Gespräch

Zeitzeuge Laszlo Kevehazi mit seiner Frau und Projektleiterin Witzmann.

In ihrem aktuellen Projekt Gaudiopolis – ein performativer Museumsrundgang, das von 11. bis 22. Juni im Wiener Volkskundemuseum zu sehen sein wird, stellt die Wiener Künstlerin Tanja Witzmann die „wahre Geschichte einer ‚gelebten Utopie‘“ in den Mittelpunkt. Im Gespräch mit Angela Heide erzählt Witzmann über den anderthalbjährigen intensiven Arbeitsprozess und ihre Beweggründe, sich mit der Geschichte einer „Stadt der Freude“ im zerstörten Nachkriegseuropa zu befassen.

Csendilla, das ehemalige Schwalbennest, eine der sechs Manfred Weiss Villen. Hier haben die Jungs von 11–12 Jahren gewohnt.Angela Heide: Wie bist du auf das Projekt „Gaudiopolis“ gestoßen?

Tanja Witzmann: Eigentlich durch Zufall. Im Herbst 2016 gab es einen Artikel darüber im Zeitmagazin, und nachdem ich diesen gelesen habe, wusste ich: Das ist es! Darüber will ich ein Stück machen. Ich habe dann sofort den Autor des Artikels kontaktiert, der eine Reihe der ehemaligen „Sztehlo-Kinder“ interviewt hatte. Er hat mir den Kontakt von Andor Andrási, einem der Gründer der Gábor Sztehlo Foundation, gegeben. Und so hat die Arbeit an diesem Projekt begonnen.

Mit „Gaudiopolis“ wurde der Versuch gestartet, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen eine selbstverwaltete Republik zu schaffen. Wie sah das Konzept zur „Stadt der Freude“ konkret aus, und wie kam es überhaupt dazu?

Den Gedanken, Kinder und Jugendliche zu selbstbestimmten und humanistisch geprägten Individuen zu bilden, hatte Gábor Sztehlo, ein 1909 in Budapest geborener protestantischer Pfarrer, unter anderem durch seine einjährige Erfahrung bei der Erweckungsbewegung in Finnland kennen gelernt und, zurück in Ungarn, während seiner Tätigkeit in unterschiedlichen Landgemeinden weiterentwickelt.
Als Sztehlo 1944 von der protestantischen Kirche beauftragt wurde, etwas zur Rettung von Kindern zu tun, die vom NS-Regime aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden, kam es zunächst gemeinsam mit dem Gute-Hirte-Komitee und später unter der Leitung Friedrich Borns, eines Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes, Archivbild aus Budpest: Gründung der Kinderreuublik. zu dieser unglaublichen Initiative, 32 über die ganze Stadt Budapest verteilte „Kinderheime“, oft nur einfache Wohnungen, zu gründen, in denen diese Kinder und Jugendlichen sowie deren Betreuer*innen – insgesamt waren es 2.000 Personen – vor der NS-Verfolgung geschützt wurden.
Bei der Belagerung Budapests mussten dann viele Heime evakuiert werden und die Kinder und Jugendlichen mit deren Aufsichtspersonen in Luftschutzkellern Schutz suchen. Und hier, in einem dieser Luftschutzkeller, soll auch die Idee zu Gaudiopolisgeboren und ein erster Entwurf ausgearbeitet worden sein.
Sofort nach Kriegsende wurden Sztehlo sechs Villen entlang der Budakeszi ut. im Stadtteil Buda zur Verfügung gestellt. Mit dabei waren erneut das Rote Kreuz sowie die Don-Suisse-Stiftung, die Lebensmittel lieferten.

Wie war die „Stadt der Freude“ genau aufgebaut?

Insgesamt waren es 200 Kinder und Jugendliche, die im Projekt aufgenommen wurden. Jede Villa hatte eine gewisse Altersgruppe; es gab zum Beispiel die „Mädchenburg“ mit den älteren Mädchen von 12 bis 16, dann gab es die „Wolfshöhle“ für die Burschen im selben Alter – das eigentliche „Gaudiopolis“ – und Gebäude mit kleineren Kindern. Für die kleineren Kinder war es schlichtweg ein Heim, das darf man nicht zu sehr idealisieren. Diese kleineren Kinder waren auch zum Großteil schwer traumatisiert. Pribenfoto: "Gaudiopolis", Projektleitung: Tanja Witzmann.Auffallend ist auch, dass viel mehr Buben als Mädchen dabei waren und dass auch die größeren Mädchen den Erzählungen nach nicht direkt an der Entwicklung des Projektes beteiligt waren und meist nur zu den Abstimmungen in die 30 Gehminuten entfernte „Wolfshöhle“ kamen. Was uns im Zuge der Recherchen insgesamt aufgefallen ist, ist, dass es eine sehr brüchige Geschichte ist, eine Geschichte, die man nicht stringent erzählen kann, was auch für die Entwicklung unseres Stückes entscheidend war.

Ihr habt viele Zeitzeug*innen interviewt. Was sind heute deren prägende Erinnerungen, und gibt es Unterschiede, wie aus der zeitlichen Distanz auf diesen großen Gesellschaftsentwurf zurückgeblickt wird?

Von zwei Zeitzeuginnen, die dabei waren, Victoria Fözö und Etélka Aczel, sind die Erinnerungen sehr unterschiedlich. Die eine hat uns erzählt, dass sie damals andere Interessen hatte und lieber für die Schule gelernt hat und dass Gaudiopolis vor allem ein Projekt war, um die jungen Burschen zu beschäftigen – eine Tatsache, die auch Sztehlo selbst in seinem Tagebuch festgehalten hat. Für die andere stellt sich die Situation damals in der Erinnerung ganz anders dar. Was alle verbindet, die in Gaudiopolis waren, ist, dass diese Erfahrung für ihr weiteres Leben entscheidend war: dieses Gefühl der Selbstermächtigung und in der Lage zu sein, Dinge zu lösen und vor allem in der Gemeinschaft zu lösen. Das was für ihr Leben bestimmend.

Wie sah die Rezeption von „Gaudiopolis“ nach dessen erzwungenem Ende 1950 aus?

Erst in den Achtzigerjahren hat die ungarische Filmemacherin Erika Szántó eine Fernsehdokumentation mit dem Titel „Gaudiopolis – In memoriam Sztehlo Gábor gemacht, für die sie zum ersten Mal Zeitzeug*innen interviewt und viele von ihnen zum ersten Mal wieder zusammengebracht hat. Tanja Witzmann im Gespräch mit dem Zeitzeugen Andor Andrasi.Und das war dann auch der Impuls für eine Reihe der einstigen „Sztehlo-Kinder“, eine Stiftung zur Ehren Gabor Sztehlos zu gründen. Ein weiterer Film, Irgendwo in Europa von Géza von Radványi aus dem Jahr 1946/47 behandelt die Situation streunender Kinder in einem kriegszerstören Europa und die Frage nach deren Chancen, ein Leben in Frieden und der Humanität zu leben. Dieser Film, an dem auch Kinder aus den ehemaligen Sztehlo-Heimen mitspielten und der vermutlich sehr stark auf deren Geschichten basiert, zählte dank seiner deutlichen humanistischen Botschaft von Völkerfrieden und -verständigung zu den bedeutendsten ersten Nachkriegsproduktionen in Europa und ist zugleich die erste Dokumentation der dramatischen realen Situation jüdischer wie nicht-jüdischer Kinder nach Ende des Krieges.

Mit welchem Material habt ihr noch gearbeitet?

Andor Andrási hatte mir beim Erstkontakt schon erzählt, dass es von Gábor Sztehlo eine 1994 erschienene Autobiografie gibt, In the Hands of God. Mit diesem Buch habe ich meine Recherchen auch begonnen. Im März 2017 habe ich dann erfahren, dass es im Herbst eine Ausstellung über „Gaudiopolis während der Off-Biennale in Budapest geben wird. Dank der Förderzusage durch die Stadt Wien konnte ich die Ausstellung tatsächlich besuchen und im Zuge dieser Arbeitsreise auch eine Reihe von Zeitzeug*innen in Budapest interviewen.
Und dann, schon fast gegen Ende unserer Vorarbeiten, kamen wir durch einen unglaublichen Zufall darauf, dass auch Rudolf Schönwald (*1928), den unsere Ausstatterin Renate Vogg seit 20 Jahren kennt, ein „Sztehlo-Kind“ war. Rudi wird Ende Juni 90 Jahre alt und lebt in Wien, und natürlich hat er uns bei den Proben besucht und vieles, was wir in diese Arbeit hineingepackt haben, auch bestätigt.

Wie bist du im Zuge eurer Recherchen mit dieser Fülle an Material umgegangen?

Ich habe zuerst alles Material, also vor allem die Bücher und Filme, das ich in Wien finden konnte, bearbeitet; im Herbst 2017 sind wir nach Budapest gefahren und haben dort mit den Interviews mit den Zeitzeug*innen begonnen, die das zentrale textliche Material für das Stück darstellen. Tanja Witzmann lässt den in Steyr lebenden Zeitzeugen Istvan Magyary-Kossa erzählen.Einen Zeitzeugen, der seit 1956 in Steyr in Österreich lebt, István Magyary-Kossa (*1932), hatte ich schon davor interviewt. Mit Greta Elbogen (*1937 in Wien), die als jüdisches Kind in einem der Heime überlebt hatte und heute in New York lebt, haben wir ein telefonisches Erstinterview geführt. Und dann war ich schließlich in Israel, wo ich im Kibbuz Dalia David Peleg (*1931 als Tamás Perlusz in Budapest) kennen lernen durfte, der beide Eltern durch die Schoah verloren hat. Auch David war nach Kriegsende nicht mehr in „Gaudiopolis. Aber mir ist es immer wichtiger geworden, beide Geschichten zu erzählen: die der Stadt der Freude  und die aller „Sztehlo-Kinder“. Denn erst in dieser Komplexität wird die enorme Dimension dieses historischen Projektes richtig deutlich.

Wie ist dann der konkrete Parcours entstanden?

Der Text selbst wurde von mir und dem Autor Thomas Perle geschrieben, der selbst rumänischer Herkunft ist, aber auch Ungarisch kann. Lídia Luca Pályi war mit uns in Budapest und hat alle Bücher und Interviews übersetzt und uns dramaturgisch begleitet. Vor allem die fünf kleineren Einzelszenen während des Parcours basieren aber auf den geführten Interviews, etwa die Szene zwischen dem Geschwisterpaar Nora und Kati Elöd, die fast ausschließlich aus den O-Tönen der beiden entstanden ist, und auch die Szene zwischen Lászlo Kévehazi (*1928, Budapest) und Andor Andrási (*1933).

Wie kann man sich den so entstandenen „performativen Museumsrundgang“ vorstellen?

Im ersten Teil wird das Publikum in die Geschichte von Gabor Sztehlo und der geretteten Kinder ab 1944 eingeführt. Wir enden hier auch wirklich mit der Szene im Keller, wo die Kinder das konkrete Konzept für ihre „Stadt der Freude“ entwickeln. Probenfoto: Die Kinder in der "Stadt der Freude". Von da an wird das Publikum in fünf Gruppen geteilt und an verschiedene Orte gebracht, an denen man Szenen sieht, die auf den von uns geführten Interviews mit den Zeitzeug*innen basieren. Zwei Szenen sind dabei explizit in „Gaudiopolis angesiedelt. Am Ende kommen alle wieder zusammen und erleben im Garten des Museums die „Gründung“ oder eigentlich die Ministerpräsident*innenwahl, bei der man auch aktiv teilnehmen wird.

Wie kam es zur Entscheidung, das Projekt im Wiener Volkskundemuseum zu machen?

Eigentlich wollte ich dafür in Anlehnung an die historischen Orte eine Villa bespielen, aber leider hat sich die Suche nach einem passenden Ort in Wien als ergebnislos erwiesen; und so haben wir uns sehr gefreut, dass das Volkskundemuseum Interesse an unserer Arbeit gefunden hat und nun einer unserer Projektpartner*innen und Veranstaltungsort ist.

Der Zeitzeuge David  Peleg erzählt, Tanja Witzmann hört zu. Ihr arbeitet mit Studierenden der Wiener internationalen Akademie für Schauspiel & Performance diverCITYLAB zusammen, die einen starken Fokus auf die Stärkung einer „postmigrantischen Gesellschaft“ hat und „eigenständig denkende und handelnde Schauspieler*innen“ ausbilden will. War dieser Anspruch, der ja dem Gedanken von „Gaudiopolis“ nicht unähnlich ist, nämlich früh schon selbstbestimmte, pluralistisch denkende junge Menschen dazu zu ermutigen, demokratische „Utopien“ zu entwickeln und zu leben, mit ein Grund für diese Partnerschaft?

Das stimmt, und es war für uns eine große Bereicherung, mit diesen Studierenden zu arbeiten. Basierend auf dem von mir entworfenen dramaturgischen Ablauf wurden die Szenen bei Improvisationen mit den Student*innen der DiverCITYLAB-Akademie weiterentwickelt. Eine große Unterstützung bei der szenischen Umsetzung während der Endproben kam auch von Asli Kislal, der Gründerin und Leiterin von diverCITYLAB. Die Arbeit mit einem so jungen multinationalen Ensemble ist für mich wie ein Spiegel unserer Zeit.

Plant ihr eine Fortsetzung des Projektes, etwa die Einladung der aktuell in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig gezeigten Ausstellung, eine Wiederaufnahme im Herbst oder ein Buchprojekt mit den Interviews?

Natürlich wäre es für alle Beteiligten wichtig, Gaudiopolis weiter in die Welt zu tragen. Aber die Wahrheit ist, dass ich für diese Schritte Unterstützung ‒ personell wie finanziell ‒ bräuchte, auch Institutionen, die daran interessiert sind, das Projekt zu zeigen. Aber warten wir mal ab, wie „Gaudiopolis in Wien ankommt.

Auf Grund: „Gaudiopolis“ – Stadt der Freude; performativer Museumsrundgang; 12+
Konzept & Leitung: Tanja Witzmann; Text: Tanja Witzmann, Thomas Perle & diverCITYLAB; Recherche, Übersetzung: Lídia Luca Pályi; Ausstattung: Renate Vogg, Sarah Sternat; Musik: Imre Lichtenberger Bozoki; mit: Ahmet Ağgün, Duygu Arslan, Barča Baxant, Kira Fasbender, Sayyed Javid Hakim, Christina Lindauer, Onur Poyraz, Isabella-Nora Händler, Melike Yagiz
Volkskundemuseum, Wien, Laudongasse 15–19, 1080 Wien, Premiere: 11. Juni 2018, 19.30 Uhr; weitere Vorstellungen: 14., 20. und 21. Juni, 19.30 Uhr sowie Vormittagsvorstellungen für Schulklassen.
In Kooperation mit diverCITYLAB Akademie, Dschungel Wien und Volkskundemuseum.
Fotos: © Daniel Wolf, Tanja Witzmann, Archiv