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Company Wayne McGregor: „Autobiography“

"Autobiography" im faszinierenden Lichtwechsel © Andrej Uspenski

Was macht den Menschen aus? Ist es seine, ihre DNA? Die Einflüsse durch Familie, Gesellschaft, Umwelt, Kunst, Musik? Körper, Räume, Licht? Wie erzählt sich dieses „eine“ Leben, das von 23 Chromosomen-Paaren und einem DNA-Code vorgegeben scheint und doch in jeder Sekunde seines Gelebtwerdens etwas gänzlich Neues, Unerwartetes, Ereignishaftes schreibt, „auto-bio-graphy“: das eigene Leben schreiben.

Der Körper als Archiv

Wayne McGregor, 1970 im englischen Stockport geboren und seit 1992 mit seiner eigenen Kompanie international vielbeschäftigter Choreograf, hinterfragt in seiner jüngsten Arbeit „Autobiography“, die im Oktober 2017 im London Sadlerís Wells zur Uraufführung kam und soeben im Festspielhaus St. Pölten zur Österreichischen Erstaufführung gelangte, genau diesen Moment der Unwiederholbarkeit des Lebens als erinnerbare Lebensgeschichte. Nichts ist wirklich in seiner unendlichen Multidimensionalität erzählbar. Schon gar nicht das eigene Leben, das Erlebte, Beobachtete, das Übersehene, unkonzentriert oder aus schierer Überforderung nicht Wahrgenommene.  Autobiographische Erinnerung von Wayne McGregor und anderen  © Richard Davies

So ist auch „Autobiography“ eine einzige virtuose Überforderung: Hier die von McGregor gemeinsam mit zehn Tänzerinnen und Tänzern seiner Kompanie entwickelten 23 autobiografischen Erinnerungen in Form eines sich ständig verändernden „lebendigen Archivs“ (McGregor). Angelehnt an die Zahl der Chromosomen-Paare sind so „23 Bände eines Lebens“ entstanden, das „im konkreten Fall ganz explizit“, eben immer mehr als eines ist, Erinnerungen an Lektüren, Erlebtes, Gelesenes, Musik, Bewegungen, Begegnungen als getanzte Körper-Archive ... Parallel dazu, diese so vor unseren Augen erstehenden Lebensgeschichten nie wirklich begleitend, ja ihnen da und dort absichtsvoll und unnachgiebig „im Wege stehend“, sie im Licht auflösend, dann wieder durch eigenständige parallele Farbchoreografien, Lichtblitze, Momente vollkommener Dunkelheit bedrohend die von Ben Cullen Williams in Anlehnung an die dreieckige Grundform der DNA und das Farbenuniversum der menschlichen Zellen angelehnten Bühnenobjekte und Projektionen sowie Lucy Carters grandiose Lichtkompositionen.

Burnt in lucent light

Die von Williams entwickelten mobilen Aluminium-Dreiecke, die ihren konzeptionellen Ursprung in der Auseinandersetzung mit Form, Funktion und Sichtbarkeit von DNAs haben, bewegen sich im Raum von oben nach unten, schaukeln, wippen, nehmen dabei immer wieder neue Gestalten an, setzen sich zueinander und zu den Tänzerinnen und Tänzern in Bezug. Körper, gebrannt im Licht.  © Andrej Uspenski Geben ihnen Licht und entziehen es wieder, wirken wie ein Schutz vor den seitlich auf die Tänzer*innen hereinbrechenden Lichtströme, dann wieder wie unheimliche, schillernde Gegner, bis sie schließlich, bis auf den Bühnenboden heruntergefahren, zur direkten physischen Bedrohung werden, der sich die Tänzer und Tänzerinnen zu entziehen versuchen, ehe sie für die Dauer einer kurzen Sequenz unter ihnen zur Ruhe kommen.

Sie sind autonome Objekte und Tanzpartner mehr als untergeordnete Bühnenelemente oder gar „Bühnenbild“. In diesem Bild, das keines ist, weil es sich ständig verändert, werden die luziden und doch bedrohlichen Dreiecke, die Lichtboxen und die Leuchtröhren zu aktiven, unkontrollierbaren Mitspieler*innen. Sie sind Lichtquelle und Gefahr, bieten Schatten und für Momente Dunkelheit, erzeugen Skulpturen, Binnen-, Sub- und Zwischenräume, trennen und verbinden. Sinken herab, steigen wieder auf, tanzen mit, tanzen dagegen an, sind Baldachin und Pfeile im Tanz des Lebens.

Und über allem die großartige, wuchtige, ausweglose Elektro-Sound-Ebene der dreißigjährigen US-amerikanischen Musikerin Jlin, ein, so Choreograf McGregor, „unvorhersehbarer Strom, der, wenn man ihn zum ersten Mal hört, unsere gewöhnlichen Bezugspunkte erschüttert.“ Gestrecke Körper schweben, wippen, drehen, fallen in der Bibliothek eines Lebens © Andrej Uspenski

Kein Blick zurück.

„Autobiography“ ist ein überwältigend intimes Universum an menschlichen und zwischenmenschlichen Überreizungen und Überforderungen, das an diesem beat- und lichtdurchfluteten Abend entsteht, der Vorstellung für Vorstellung auf einem auf McGregors genetischem Code basierenden Algorithmus aufbauend neu programmiert wird. Nie sieht man alle 23 Bände dieser gemeinsam entwickelten „Lebensbibliothek“, nie sieht man denselben Abend, dieselbe Reihenfolge, dieselben Geschichten wieder. Nichts wird noch einmal erzählt, wie eigentlich nichts an dieser, jegliche Erwartungshorizonte sprengenden, neue rezeptorische Parameter setzenden Arbeit überhaupt erzählt wird.

Hier werden Leben als Körper in sich stets verändernden Objekt-Licht-Sound-Räumen nicht mehr einfach erzählt, sondern vor den Augen des Publikums (auto)biografisch neu und weiter getanzt. Furios und kraftraubend, den eigenen Körper-Raum im Bühnen-Raum ausbreitend, entstehen in den Berührungen, in den Begegnungen, in der Abgrenzung, ja, in der Bedrohung zwischen den Tänzerinnen und Tänzern Beziehungen, die ihrerseits wieder Geschichten schreiben. Alles ist Form und zugleich auch schon wieder deren Auflösung. Bilder entstehen für Sekunden, um in der nächsten schon wieder überlagert zu werden. Wo endet Körper, wo beginnt Raum. Hier eine zur Ruhe gekommene Gruppe im zartrosa Licht, dort ein Paar zwischen intimster Begegnung und harter Trennung. An anderer Stelle der unerbittliche Kampf zweier Frauen.

Leave me alone.“

Paare im hellen Licht oder in der dunkelheit der Naht. ©  Andrej Uspenski Ein Liebespaar, zwei, drei. Jedes Solo ein anderes Leben. Und selbst in der Wiederholung von Bewegung durch den, die andere ist die Geschichte nicht erzählt. Es wird grün. Stille. Atmen. Für Minuten. Vogelgezwitscher. Dann wieder formieren sich Gruppen von Menschen, die versuchen, in der Berührung etwas von dem zu verstehen, was die / der andere Tänzer*in, was also diese andere Biografie als getanzter Moment des Unerzählbaren ist. Und immer wieder sind die Köper der Tänzer*innen vor allem aber eines: mehr als dieser eine selbst. Uferlos in ihren zugleich so exakten wie blicksprengenden Bewegungen greifen sie immer wieder wie von außen, aus dem eigenen Körper, der eigenen „bio-graphy“ ausbrechend nach sich selbst, greifen mitten hinein in den Raum, den Sound, die bunten Nebelflächen dieses Abends, widersetzen sich oder gehen ab, um im nächsten Moment wieder zu erscheinen. In einer anderen Konstellation, einer anderen Geschichte, einer anderen “bio-graphy“.
… und manchmal einsam. © Andrej Uspenski Nur der Anfang und das Ende dieser choreografischen Medidation über die Möglichkeiten neuer Synergien und Beziehungen innerhalb eines gegebenen Materials sind fix. Geburt und Tod. Dazwischen spielt sich alles in einer so unnachgiebigen Überforderung ab, dass der Abend phasenweise an eine Schmerzgrenze stößt, der man sich für keine Sekunde entziehen möchte. Nur nicht wegsehen, nichts übersehen, war da nicht ..., hat man nicht ... vorbei.
Unwiederholbar. So ist das Leben.

„Autobiography“: Choreografie: Wayne McGregor in Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern; Musik: Jlin; Bühne und Projektionen: Ben Cullen Williams; Licht: Lucy Carter; Kostüme: Aitor Throup; mit: Rebecca Bassett-Graham, Jordan James Bridge, Travis Clausen-Knight, Louis McMiller, Daniela Neugebauer, Jacob OíConnell, James Pett, Fukiko Takase, Po-Lin Tung, Jessica Wright. Festspielhaus St. Pölten, 13. April 2018
Weitere Vorstellungen unter anderen.: Trafó House of Contemporary Arts, Budapest, 17., 18. April 2018, Festspielhaus Bregenz, 21.April 2018,
Sadler’s Wells, London, 26., 28. Juli 2018, Kampnagel Hamburg, 22., 25.August 2018