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Schwarzes Blut, morsches Holz und die Lücke

Raul Maia: Spiel mit dem nicht Sichtbaren.

Der zentrale Inhalt der Performance des exzellenten Bühnenkünstlers aus Portugal, Raul Maia, ist nicht zu sehen. Er zeigt dem Publikum diesmal die Lücke, das Blackout, the Gap. Wir starren in das schwarze Loch – und füllen es sofort mit Inhalt. The word of the gap nennt Maia seine im studio brut gezeigte Performance. Am 9. November war Premiere.

Was man von hier aus nicht sehen kann, ist das Eigentliche. Rätsel hat Maia dem Publikum schon immer aufgegeben, auch in seinen früheren Stücken ist nicht nur Körper beteiligt. In der aktuellen Performance bekommen auch Musik und Licht, die Objekte, die Schrift an der Wand ein Eigenleben. Auch das scheinbar nicht Lebendige agiert selbstständig, ohne erkennbaren Zusammenhang. Nicht für mich. Die Synapsen klicken ineinander und mein Gehirn füllt die Lücken mit einem Narrativ. Nicht ganz logisch, aber befriedigend. Stummer Mann im Licht (Raul Maia).
Die Schrift an der Wand erscheint mir als Text eines Märchenbuchs, auch geheimnisvolle Sätze aus einem Grimoire. Die Bilder dazu entstehen auf der Bühne. Sie tauchen aus dem Dunkel, der Lücke, auf und verschwinden auch wieder im schwarzen Loch.
Ein gesichtsloser Mann in Blau, mit weißen Schuhen steht stumm und bewegungslos im diffusen Licht, er hebt die Arme und öffnet mein Bilderbuch.Die schwarze Frau (Angela Diaz Quintela) kann eine Zauberin, eine Hexe, der Tod oder nichts von alldem sein.Das Wesen, das durch die Geschichte führt, hat nur bunte Shorts an, spricht nicht, agiert mit den Armen, manchmal hält es einen Ball in den Händen, möglicherweise die Weltkugel. Die englischen Textzeilen wenden sich an ein Du (mich?), geben Anweisungen, erzählen von der Vergangenheit und der Zukunft. Der Bewegungsraum, zugleich ein Klangraum, in dem sich klassische mit elektronischer Musik und verschiedenen Geräuschen mischt, ist von zwei schräg stehenden Wänden begrenzt. Die eine ist bis zum Finale strahlend weiß, dann wird sie bunt. Die andere ist ein roter, oft bewegter Vorhang, hinter dem Unheimliches vor sich geht.Im Schafspelz mit tiefer oder gar keiner Bedeutung. Das knochendürre Wesen mit Spinnenfingern scheint zu schlafn, eine schwarze Frau taucht auf, bleckt ihre weiß glühenden Zähne. Ich denke an eine Hexe, doch sie ist der Tod. Das männliche Wesen verlässt sein Lager, eine Lacke schwarzen Blutes bleibt zurück. Blut klebt auch auf seiner Stirn. Immer neue Fragmente erscheinen unerwartet aus der Dunkelheit, nicht immer kommen sie ans Licht, sind oft auch nicht identifizierbar. Der Schatten an der Wand zeigt einen urzeitlichen Jäger, Rauch steigt auf, Trommeln werden geschlagen, um ihn zu vertreiben; ein Etwas im Schafspelz steht plötzlich da, blökt nicht, bewegt sich nicht, verschwindet wieder. Die Geschichte, meine Geschichte, spielt nicht auf einer Zeitebene, vielleicht sind es auch viele Geschichten und Erinnerungen, von denen nur Teile zu sehen sind, manche tauchen immer von neuem auf, der Lauf des Lebens, der Welt ist eine stetige Wiederholung. Der Vorhang öffnet sich, gibt die Sicht auf den morschen Holzprügel frei.
 Auch wenn das Auftauchen der Körper, Objekte und Klänge an einen Horrorfilm erinnert, fühle ich mich wohl mit den Bildern und Texten im Zauberbuch. Mühelos fülle ich den Fokus der Performance, die schwarzen Löcher, doch die Geschichte werde ich nicht erzählen. Raul Maia erzählt ja keine, doch jede und jeder im Publikum sieht einen anderen Film, hat seinen eigenen Traum. Oder bleibt verwirrt und ratlos. Am Ende, wenn die bunten Lichter erloschen sinEin Bad im schwarzen Blut, danach ist ein Mal auf der Stirn zu sehen.d, ist nichts mehr da, außer Staub, Staub, zu dem wir alle werden.
Doch Achtung! Das sind meine Interpretationen, Geschichten und Gedanken aus meinem persönlichen Bilderbuch. Der Künstler Raul Maia hat ganz anderes gedacht, vielleicht auch nichts, hat nur gezeigt. „Verstehst du, was ich meine?“, fragt der Text, von dem nicht bekannt ist, wer oder wie viele ihn geschrieben haben oder gar in Echtzeit schreiben. Der Jäger. Auftauchen, verschwinden, vielleicht noch einmal auftauchen, das ist das Motto.
 Auf dem Programmzettel erklärt er seine Methode: „In meiner Arbeit gehe ich nicht von wörtlichen Themen wie Politik, Geschlechtergesellschaft oder Geschichte aus, sondern ziehe es vor, von einer Leerstelle auszugehen.“ Für Maia lebt die Performance „tatsächlich von einer Art Dialog zwischen dem Publikum und allen Lücken, die zwischen den Fragmenten bestehen.“ Mind the gap! Danke Raul, dass mir nicht vorgeschrieben wird, was ich denken darf und nicht sagen soll, dass nicht manipuliert und oktroyiert wird, dass ich einfach in eine künstlerische Darbietung hineinfallen kann und das Unheimliche und Rätselhafte genießen darf.

Raul Maia: the word of the gap, 9. bis 11. November 2023, studio brut
Künstlerische Leitung: Raul Maia
Performance: Raul Maia, Angela Diaz Quintela
Klangkomposition: Raul Maia; Mastering: Alex Kasses ; Licht: Frederico Lobo, Raul Maia; Bühne und Kostüme: Raul Maia, Ana Renata Polónia.
Fotos: © Christine Miess