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Chris Haring: „Schwanensee“, Tanz Linz Company

"Schwanensee" in Linz mit neuem Bewegungsvokabular

Als erster Gastchoreograf der neuen Ausrichtung der Sparte Ballett am Linzer Landestheater hat sich Chris Haring mit Hilfe seiner Formation Liquid Loft mit dem Ballettklassiker „Schwanensee“ zur Musik von Peter I. Tschaikowsky beschäftigt. Er schält den Kern der Märchenerzählung von den in Schwäne verwandelten Prinzessinnen heraus und der ist Täuschung, Lug und Trug. Siegfried, der der Schwanenkönigin ewige Liebe geschworen hat, verliebt sich stante pede in deren Doppelgängerin, einem Trugbild. Falsche Bilder, Gestaltwandler, die immer wieder zu Skulpturen erstarren, Schwäne, Krokodile oder Elefanten, kopflose, beinlose, rumpflose Wesen aus einem anderen Universum bevölkern die Bühne. Nur Tschaikowskis Musik erzählt das bekannte Märchen (Märchen?) von Treuebruch und Ent-Täuschung. 

Seltsame Wesen tummeln sich am "Schwanensee", manchmal sind es sogar Schwäne.Verzweifelt flattert auf der Ballettbühne die echte Schwanenfrau im Hintergrund mit den Armen (Flügeln), um Siegfried zu warnen: Ich bin es nicht, du huldigst einer Falschen. Doch die Begierde macht Siegfried, wie jeden Verliebten, blind. Er sieht, was er sehen will, ein Traumbild, eine Frau, die es in der Realität gar nicht gibt. Aber auch die in anmutige Schwäne verwandelten Frauen gibt es nicht in unserer realen Welt, zumal diese Schwäne mit den langhalsigen Gänsen unter den Entenvögeln gar nichts zu tun haben, es sind Märchenwesen, der Fantasie und Erzählkunst mehr entflogen als entsprungen.
Wie auch immer, auch Chris Haring lässt die Tänzer:innen mit den Armen wedeln, als aufgeregt oder fröhlich, traurig und devot flattern. Die Geschichte von Lug und Trug, Eifersucht und diesem glühenden Gefühl, das Siegfried erfasst, nicht zu einer lebendigen Person, die er schätzt und respektiert, sondern zu seiner Vorstellung, zu einem Idealbild. Haring verzichtet auf die Geschichte, weil sie ohnehin bekannt ist und auch von der Musik eindeutig, mit Leitmotiven, erzählt wird. Die Linzer Tanzcompany ist flexibel und anpassungsfähig.Er verzichtet auf eine Rollenzuteilung und auf Schauplätze, lässt alle (es sind zwölf Tänzer:innen des Linzer Ensembles) alles sein, Frauen und Männer, Prinzen und Schwäne, weiße und schwarze, Odette und Odile, Siegfried und Rotbart, weiblich, männlich und divers. Dennoch respektiert der Choreograf das klassische Werk, entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts und heute Bestandteil jeder auf sich haltenden Ballettcompagnie, erinnert in so mancher Bewegungssequenz mit feiner Ironie an die herkömmlichen Bilder in den Köpfen des ballettaffinen Publikums. Er lässt Fabelwesen tanzen und auf der Drehbühne posieren, kleidet sie in dehnbare Stoffe (Kostüme: Stefan Röhrle), die zugleich verhüllen und entblößen. Wie wandelbar seine Figuren sind, wird deutlich, wenn sie sich auf offener Bühne verkleiden, ihre Hüllen einfach fallen lassen, die Kostüme tauschen oder im rasantem Parcours einsammeln und verstauen. Echte Bilder, falsche Schatten, oder trügerische Bilder, reale Figuren?
Die Wiener bildende Künstlerin Anouk Lamm Anouk – Eigendefinition: „no age no gender no origin“ – hat für ihr Setting die Hinterbühne geöffnet und einen teils gemalten Raum geschaffen, der sich ins Unendliche dehnt und im zweiten Teil der getanzten Bilderfolge mit Licht und Videos eine ferne Welt öffnet. Um das Thema der falschen Bilder deutlich zu machen, hat Michael Loizenbauer verstörende Videos geschaffen. Wenn die Videowand sich senkt und die verschleierten Gesichter, die sich spaltenden und zerfließenden Körper erscheinen, sind die realen Tänzer:innen nur noch Schatten, kleine dunkle Hampelmänner und -frauen. Hannah Szychowicz hat das Schwanengeflatter im Körper.
Nach mehr als 80 Minuten scheint mir, Chris Haring hätte sich in die Musik Tschaikowskys und auch in seine eigene Kreation verliebt. Er wiederholt musikalische und auch kinetische Passagen und findet kein Ende. Mehrmals versinkt Siegfried (musikalisch und mit blauem Licht untermalt) im See, mehrmals müssen Schwäne Schwäne bleiben, werden nie mehr ihre weibliche Gestalt wiedererlangen, bleiben Opfer männlicher Gefühlsduselei. Nach 110 pausenlosen Minuten geben die Tänzer:innen endlich auf, bestaunen bäuchlings die beiden Schwäne, schwarz und weiß, die sich in die Lüfte heben um gleich darauf jämmerlich in sich zusammensacken. Eine Täuschung par excellence, gefaltete Steppdecken.
Casper Mott, Shao Yang Hsieh: Verschleierte Skulpturen, kräftige Tänzer. Die Musik, etwas gekürzt und neu zusammengesetzt, wird vom Brucknerorchester, dirigiert von Marc Reibel, ins Auditorium gedonnert und geschmeichelt, ist sehnsuchtsvoll und leidend, festlich und liebestoll, romantisch eben. Wenn das gesamte Orchester samt dem Dirigenten von der Mechanik im Graben emporgehoben wird und auf gleicher Ebene mit den Tänzer:innen spielt, spendet das Publikum beglückt heftigen Applaus. Auch die Schlussovationen gelten vor allem Reibel und den Musiker:innen. Das durch Krankheit und Karenz ein wenig dezimierte, dennoch hervorragende Ensemble ist dem Premierenpublikum auch lautstarkes Lob und Dank wert. Wenn Choreograf Chris Haring mit seinem Team erscheint, sind zaghafte Buhrufe zu hören. Doch sie werden von der Begeisterung der Zugereisten schnell übertönt, ist doch halb Wien gekommen, um den international renommierten und mehrfach preisgekrönten Choreografen Das Orchester wird aus dem Graben gehoben und spielt zum Fest, bei dem alle Siegfried sein dürfen. an der Arbeit mit der Tanz Linz Company zu sehen und die alten Bilder vom Schwanensee auszuradieren.
Haring erklärt sein Konzept: „Es soll weder grotesk noch humoresk wirken. Wir gehen ja nicht von einer Idee eines Körper mit Prothesen aus, sondern von der Struktur eines Märchens. Ich muss diese Figuren daher putzen. Prinz Siegfried, Odette und Odile müssen abgestaubt werden.“ (Abdruck im Programmheft) Wie staubig die Schwanenkönigin Odette und das schwarze Blendwerk Odile auf der Ballettbühne sind, möchte ich nicht beurteilen, Chris Haring hat jedenfalls mit seinen Figuren, Skulpturen und Bildern ein ästhetisch ansprechendes, glattes Werk geschaffen, das den Abschluss seiner Serie von Camouflage und Imploding Portraits bilden könnte.

„Schwanensee“, Choreografie von Chris Haring. Musik von Peter I. Tschaikowsky.
Musikalische Leitung: Marc Reibel. Choreografie und Inszenierung: Chris Haring. Set Design / Kunst Anouk Lamm Anouk; Kostüme: Stefan Röhrle, Videodesign: Michael Loizenbauer; Lichtkonzept und Szenografie: Thomas Jelinek: Sounddesign: Andreas Berger. Dramaturgie: Roma Janus. Ein abschließender Scherz muss erlaubt sein: Finale mit Riesenschwan aus gestepptem Stoff. Tanz und Choreografie: Elena Sofia Bisci, Shao Yang Hsieh, Angelica Mattiazzi Casper Mott, Katherina Nakui, Pavel Povraznik, Abert Carol Prediguer, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh, Hanna Szychowicz, Pedro Tayette, Fleur Wijsman. Bruckner Orchester Linz. Premiere am 23.4.2022., Musiktheater Linz.
Fotos © Michael Loizenbauer (Hauptprobe, 13. April 2022).