Skip to main content

Joël Dicker: „Das Geheimnis von Zimmer 622“, Krimi

Bestsellerautor Joël Dicker am Genfer See. Lizenzfrei / © Jeremy Spierer-

Mit seinem ersten Roman, „La Vérité sur l’Affaire Harry Quebert“, hat der Schweizer Autor Joël Dicker 2012 in seiner Heimat und in Frankreich, und ein Jahr später auch im deutschsprachigen Raum, („Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“), Furore gemacht. Damals war er noch keine 30 Jahre alt. Jetzt ist sein vierter Roman auf Deutsch erschienen, und „Das Geheimnis von Zimmer 622“ hat mich ebenso gebannt wie der endlose Spaziergang durch ein verspiegeltes Labyrinth, aus dem man ohne Hilfe nicht herausfindet, und im Grunde gar nicht heraus will, weil es darin so schön verwirrend ist.

In Genf hat die Liebe ein Ende gefunden, der Verlassene reist nach Verbier, um sich zu erholen. © schweiz-netz.comIn einem Nobelhotel im schweizerischen Verbier ist ein Mord passiert. Über den nicht gesprochen wird, weil kein Täter, keine Täterin gefunden worden ist und die gesamte Angelegenheit äußerst mysteriös ist. Geblieben ist, muss gesagt werden, denn die Untat geschah 15 Jahre, bevor die Haupthandlung einsetzt. Undurchsichtig ist auch das Milieu, in dem das Geschehen spielt, das Schweizer Bankennetz. Der Patriarch einer Großbank ist gestorben, der Kampf um die Nachfolge hat schon begonnen und ist mit einer Leiche zum Ende gekommen. 15 Jahre sind seitdem vergangen.
Nach einer unglücklich geendeten Liebesaffäre verlässt der Schriftsteller Joël Dicker Genf und will in einem Nobelhotel in Verbier zur Ruhe kommen und an seinem neuen Roman schreiben. Joël Dicker ist also doppelt vorhanden, als Autor eines Kriminalromans und in eben diesem Roman als Mitwirkender an der Lösung aller Rätsel. Diese Spiegelungen und Verdopplungen setzen sich auch in der Erzählung Dickers, der Romanfigur, fort. Eine reale Person im fiktiven Roman: Verleger Bernard de Fallois, dem Dickers Verehrung gehört. © figaro.frEs tauchen Personen auf, die nicht sind, was sie zu sein vorgeben, die Zeitebenen springen vor und zurück und schließlich taucht auch ein Toter auf, eine reale Person, nämlich Bernard de Fallois, Gründer und Herausgeber der Édition de Fallois, wo auch Joël Dickers (des realen und der Romanfigur) Bücher auf Französisch erschienen sind und auch aktuell erscheinen.
Bernard de Fallois ist 2018 verstorben und Dicker kann nicht umhin, ihm posthum zu huldigen. Seine etwas peinlichen Lobeshymnen muss sich die attraktive Scarlett Leonas anhören. Sie unterstützt ihn bei der Lösung des Rätsels von Zimmer 622, und er unterhält sich mit ihr auch über die Kunst des Schreibens, was den Fortgang der Handlung nicht vorantreibt, aber etwas verwirrt. Die Leserinnen befinden sich in einem Labyrinth aus Spiegeln, die sich in unendlicher Wiederholung selbst widerspiegeln. „Myse en abyme“ ist der Fachbegriff dafür, was so viel heißt, wie „in den Abgrund gesetzt“.
So ein Bilderfass hat keinen Boden.
Vor allem im Winter beliebt: Chalets in Verbier, wo auch das Rätsel um das Hotelzimmer 622 gelöst wird. © savills.com.au/blog/Logisch, dass so eine Geschichte nicht nacherzählt werden kann, was bei einem Kriminalroman ohnehin obsolet ist. Wer Dicker schon durch seinen ersten mit mehreren Preisen ausgezeichneten Roman, „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, kennt, hat längst erkannt, dass dieses Bild-im-Bild-Verfahren Dickers Rezept ist, das er, verfeinert und ausgeweitet, in jedem seiner Romane befolgt. Mich stört das nicht, es unterhält mich und lässt den Alltag vergessen, weil es, Machtspiele, Liebe, Geldwäsche, Spionage und Verrat hin oder her, reine Fiktion ist. 2009 führte die Tour de France durch den Schweizer Wintersportort Verbier. © Verbier_history
Die französische Kritik ist ihrer anfänglichen Begeisterung jedoch müde geworden. Obwohl Dicker seine Werke zuerst in Frankreich veröffentlicht, ist über „L’Énigme de la chambre 622“ (éditions de Fallois, 2020) kein Wort erschienen. Joël Dickers jüngster Roman scheint den Kritiker*innen der großen Pariser Zeitungen nicht einmal eine Erwähnung wert. In den französischen Buchhandlungen allerdings hat Dicker auch mit dem, was im Zimmer 622 im Palast de Verbier wirklich geschehen ist, die Regale gefüllt. An die 450.000 Exemplare sind aufgelegt worden. Im Interview des Radiosenders France Inter hat sich der Autor gelassen gezeigt: Buchcover, © Piper Verlag„Es ist immer gut für mich zu wissen, was ich besser machen kann. Dies ist erst mein fünftes Buch, ich bin erst 34 und muss noch viel lernen.“ (Zitiert nach Mathieu van Berchem in Swissinfo.ch).
Dicker schreibt Unterhaltungsromane, er legt offensichtlich keinen Wert darauf, in den Himmel der hohen Literatur aufzusteigen, und was die Großkritiker sagen, scheint ihm egal zu sein, wenn nur die Verkaufszahlen stimmen. Er hat sich für das Etikett „Bestseller“ entschieden, die Buchhändler*innen werden ihn weiterhin lieben. Auch mein Vergnügen im Spiegelkabinett bleibt ungetrübt.

Joël Dicker: „Das Geheimnis von Zimmer 622“, „L‘Énigme de la Chambre 622", übersetzt von Amelie Thoma und Michaela Meßner, Piper Verlag 2021. 624 S. € 25,70.