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In Le Case sind die Monster zu Hause

Der italienische Erfolgsautor Sacha Naspini. © Kein & Aber

Ein kleines Dorf in der südlichen Toskana, an einem Felsen klebend, mit einem markanten Glockenturm, aus der Zeit gefallen. Ein sterbendes Dorf ohne Namen. „Le Case“ wird die Ansammlung von ein paar Häusern und einer Bar genannt, „Die Häuser“. Aus diesen Häusern dringt ein Chor von Stimmen, die von Träumen und Enttäuschungen berichten. Hinter verschlossenen Türen ist der deutsche Titel des italienischen Erfolgsromans Le Case del Malcontento (Die Häuser der Unzufriedenheit) von Sacha Naspini.

Der toskanische Ort Roccatederighi könnte das Vorbild für den fiktiven Ort Le Case sein. © wikipediaNaspini, ein in seiner Heimat hochgeschätzter Autor mit einer langen Liste an Veröffentlichungen. Romane, Hörspiele, Essays, Erzählungen und Drehbücher. Daneben hat er auch noch Zeit gehabt, ein Videospiel zu entwickeln und eine Graphic Novel herauszubringen. Im Schweizer Verlag Kein & Aber ist 2022 Naspinis Roman „Nives“ auf Deutsch erschienen und in diesem Jahr das Mammutwerk Le Case del Malcontento / Hinter verschlossenen Türen, eine schwierige Aufgabe für die beiden Übersetzerinnen, Henrieke Markert und Mirjam Bitter. Altes Gemäuer prägen Le Case, wo nur noch alte Menschen leben. © wikipedia
In den Kritiken der Originalausgabe wird vor allem die „lebendige, harsche und poetische Sprache“ gewürdigt, die Naspini auch mit dem örtlichen Dialekt und spezifischen Wortspielen unterfüttert. Dies alles aber ist fast nicht möglich zu übersetzen. Der Charme der Originalausgabe ist allerdings in der Übersetzung nicht zu finden. 
Nahezu 600 Seiten benötigt Naspini für seinen vielstimmigen Chor, der Zeit und Raum überbrückt, in Erinnerungen schwelgt und sich an keine Chronologie hält. Die Türen sind möglicherweise geschlossen, Roccatederighi mit dem markanen Glockenturm. Der kleine Ort könnte Vorbild für Le Case sein. © wikipediadoch die Fenster sind weit offen und die Gedanken, das Schreien und Murmeln dringt heraus, dass es in den Ohren gellt. Es sind Gedanken von Mord und Totschlag, von Neid, Hass und Eifersucht. Die kleine Liebesgeschichte geht fast unter und der Zusammenhang ist beim Lesen – eine Nacht reicht nicht – schwer zu halten. Simone Martini: „Guidoriccio da Fogliano“ zeigt am rechten Rand  das Castello di Sassoforte, möglicherweise Inspiration für einen Schauplatz im Roman. Das Gemälde ist im Palazzo Pubblico von Siena zu sehen. © wikipediaManche Bewohner von Le Case reden nur einmal, andere kommen mehrmals zu Wort, je älter sie sind, desto weiter reichen ihre Erinnerungen zurück, und die sind meistens bitter. Naspini, der 1976 in der Gegend geboren ist – er gibt die bekannte Küstenstadt Grosseto, das Zentrum der Maremma, als Geburtsort an – kennt die Menschen dort. An der Küste ist die Maremma ein Sumpfgebiet, weiter oben aber in den Bergen herrschen die Steine vor. Torre dell’ Orologio, Uhrturm, davon gibt es einige in der südlichen Toscana, auch in Le Case. © wikipediaNicht nur Häuser bröckeln dort, sondern auch die Felsen, manchmal bebt die Erde, der nahe Monte Amiata ist ein erloschener Vulkan. So darf man sich nicht wundern, dass die Menschen kaum von lieblichen Gefühlen erfüllt sind, so wie Naspini sie sprechen, zischeln, stottern und flüstern lässt, sind sie alle verbittert, neidvoll, boshaft und gehässig. Sie stellen sich nicht nur vor, ihre Partner oder andere missliebige Mitbewohner umzubringen, sie tun es auch. Doch Autor Naspini liebt diese Menschen, denn sie sind, so meint er, nicht viel anders als der Rest der Welt. Der karge Lebensraum, die unerfüllten Träume, die Schmerzen des Alters und die Einsamkeit haben sie hart und bösartig gemacht. In den Gassen der Oberstadt wird auch heute noch von den Buben Palla eh gespielt. Manche Erinnrungen in Le Case erzählen davon. © wikipedia Es ist eine diabolische Commedia, eine Reise durch die Hölle, die leider nicht ins Paradies führt. Die Bezeichnung Komödie (Commedia), verspricht nicht, dass gelacht werden kann / muss, sondern nur, dass das Ende und somit alles gut ist.  So ist Naspinis Roman, auch wenn er komische Elemente hat, eher eine Tragödie, eine göttliche allerdings. Der Zusatz zu Dante Aleghieris Commedia „göttlich“ stammt von Giovanni Boccaccio, der damit ausdrücken wollte, dass Dante ein Meisterwerk geschrieben hat, das er, selbst Autor, bewundert. Die Porta Castello (Kastell-Portal) in Roccatederighi und auch in Le Case. © wikipediaVor allem den italienischen Rezensionen entnehme ich: Le Case de Malcontento ist also eine divina tragedia. Gott kommt weder in Dantes Kreisen der Hölle noch in der Bar in Le Case vor. Wie auch immer, das Pandämonium, die Heimat aller Dämonen, liegt in Le Case.
Man muss Aufmerksamkeit und Zeit erübrigen, vielleicht sogar Stift und Papier bereitlegen, um den wirren Chor der Stimmen in Le Case so richtig genießen zu können. Sie prallen tagsüber und auch nachts an die Steinmauern, übertönen herabstürzenden Regenmassen und lauern hinter Ecken, um Wehrlose auf dem Heimweg zu überfallen. Cover der deutschen Ausgabe von „Le Case del Malcontento“- © Verlag Kein & AberWie kann man im Gedächtnis behalten, wem die vielen Stimmen gehören, wie die Zischelnden und Keppelnden wirklich denken und in welchem Jahrzehnt wir uns lesend gerade befinden? Der sardische Autor Matteo Locci hat unter dem Namen Genuino Némus lokale Krimis geschrieben, in denen das örtliche Idiom fröhliche Urständ feiert.  Sylvia Spatz, der Übersetzerin, ist es gelungen, den Erzählton, den Dialekt und la limba sarda, die sardische Sprache, auch im Deutschen zu treffen. Und wenn es gar nicht möglich war, dann ist der Ausdruck oder das Wortspiel eben in der originalen Sprache des Autors geblieben. Reines Lesevergnügen aus dem Eisele Verlag.
Mit der Eindeutschung des bereits ins Koreanische und Chinesische übersetzten Romans von Sacha Naspini habe ich einige Schwierigkeiten und kann die Lobeshymnen aus Italien nicht nachvollziehen. Doch der Erfolg ist nicht zu leugnen, ein auf den Stimmen aus Le Case basierendes Theaterstück ist bereits aufgeführt, die Filmrechte sind vergeben.

Sacha Naspini: Hinter verschlossenen Türen / Le Case del Malcontento, aus dem Italienischen von Mirjam Bitter und Henrieke Markert. 576 Seiten, Kein & Aber. € 26,80. E-Book: € 18,99.